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37/2015 «Wir sind ein Land ohne Kopf!»

Von adminZoZuBo ‒ 11. September 2015

«Wir sind ein Land ohne Kopf!»

«Oh mein Heimatland! Sind wir europäisch?» Seit Jahren stellt der Zolliker Adolf Muschg diese Frage der Öffentlichkeit. Am vergangenen Freitagabend diskutierten Ständeratskandidat Daniel Jositsch und Nationalratskandidat Tim Guldimann mit dem bekannten Schriftsteller in dessen Heimatgemeinde darüber.

Der Saal des Kirchgemeindehauses war gut gefüllt, als die Moderatorin Esther Meier die drei Gäste vorstellte und alle Anwesenden begrüsste. Esther Meier wohnt in Zollikerberg und ist seit Mai im Kantonsrat. Die Veranstalterin des Abends, die SP Zollikon, schrieb auf der Ausschreibung dazu: Eigentlich sei die Frage, die Adolf Muschg unermüdlich immer wieder stelle, wie ein Seufzer, mit dem er sein Land kommentiere – aber ohne Resignation und mit ungebrochenem politischem Engagement. Adolf Muschg erklärte gleich zu Beginn, dass der Titel der Veranstaltung im Rahmen der nationalen Wahlen sich selbstverständlich an das von Gottfried Keller gedichtete Patriotenlied «O mein Heimatland» anlehnen würde. In seinem 1998 herausgebrachten Buch, das den gleichnamigen Titel trug, rechnete Adolf Muschg mit dem Bürgertum ab. Er war schon damals ein harter – aber stets fairer – Kritiker unseres Landes, an das moralische Gewissen appellierend, ohne belehrend zu sein. Adolf Muschg, emeritierter Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich, antwortete auf die Frage von Esther Meier, was sich in den letzten Jahren im Verhältnis der Schweiz zu Europa verändert habe, mit einem tiefen Luftholen und begann den historischen Abriss bei der lebensgeschichtlichen Sensation des Mauerfalls 1989. Die Rolle der Schweiz sei zur damaligen Zeit fragloser gewesen und der Feind, der sei ganz klar aus dem Osten gekommen: «Heute gibt es keine Perspektive des ewigen Friedens mehr, in unserer nicht mehr bi-, sondern multipolaren Welt ist die atomare Bedrohung, vor der wir uns schon früher gefürchtet haben, immer noch da.» Was sich definitiv verändert habe, sei die Ausprägung der weltweiten sozialen Spannungen. Doch auch die Themen der Jugend seien heute radikal anders: «Heute steht die Eigenperspektive im Vordergrund, das soziale Engagement wurde abtrainiert, aber», schmunzelt Adolf Muschg, «ich vereinfache natürlich enorm und weiss um die Ausnahmen.»

Hat die Mehrheit immer recht?

Zürich sei zu Gottfried Kellers Zeiten eine bedeutend offenere Stadt gewesen, nicht zuletzt, was die Beziehungen zu Deutschland angegangen sei. Hier knüpfte Tim Guldimann, der ehemalige Schweizer Botschafter im Iran und in Berlin, an: «Es hat sich viel verändert, wir sind eine Migrationsgesellschaft geworden. Wir haben in der Schweiz einen gewaltigen Anteil von Ausländern.» Unsere Identität der vier Landesteile und -sprachen habe sich verändert, es gebe heute mehr Kurden als Rätoromanen in der Schweiz. «Wir haben 50 Millionen Flüchtlinge auf der Welt, und debattieren um die Aufnahme von 10 000 Syrern und Syrerinnen, das ist ganz einfach lächerlich – wir sind moralisch gescheitert.» Daniel Jositsch nickte, als der Nationalratskandidat Guldimann anfügte, dass der Mut der Politik zu klaren Aussagen in Sachen Flüchtlingspolitik fehle, nachdrücklich: «Die Herausforderung unserer direkten Demokratie ist die Diskussion von teilweise sehr komplexen Fragen mit unserer Bevölkerung.» In der Schweiz herrsche der Glaube vor, dass die Mehrheit recht habe. «Aber», so der Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, «diese Mehrheit hat zum Beispiel auch gesagt, dass Frauen nicht abstimmen dürften!» Das Publikum lachte auf. «Ja», stimmte Adolf Muschg seinem Diskussionspartner zu, «die Verfassung muss uns vor dem Staat schützen, aber sie muss uns genauso vor der Mehrheit schützen.» Er habe insgesamt drei Abstimmungen über das Frauenstimmrecht miterlebt. Übrigens hätten seine Eltern bei der Abstimmung über das Frauenstimmrecht auf der falschen Seite gestanden; seine Mutter habe sich laut gefragt, ob die Frauen den Männern denn auch das noch abnehmen müssten? Erneut lachte das Publikum. Tim Guldimann betonte, dass in der Schweiz ein absurder Glaube in den Volkswillen bestehe und er nicht glaube, dass diese Ideologie, das Volk stehe über allem, auch in Zukunft funktionieren würde.

Bilateraler Europaweg?

Eine Antwort auf die Frage, wie wir mit den Flüchtlingen ohne die EU umgehen würden, blieben die drei Podiumsteilnehmer schuldig. Einig waren sie sich darin, dass die Bilateralen Verträge ein Königsweg seien. Es sei vielleicht kein Weg für die Ewigkeit, so Daniel Jositsch, aber dass wir diesen jetzt aufs Spiel setzten, sei ihm unerklärlich. Tim Guldimann griff den Punkt des Standortfaktors Schweiz in dieser Frage auf: «Unsicherheit ist das Schlimmste für Investitionen, und eine solche Situation haben wir nun nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, die Situation einer enormen Unsicherheit.» Unternehmen würden abwarten, weniger investieren. Adolf Muschg erklärte, dass es im Vorfeld der Abstimmung eine prominente Figur gebraucht hätte, die die Konsequenzen der Annahme dieser Initiative klar aufgezeigt hätte: «Wir konnten es uns lange leisten, ein Land ohne Kopf zu sein, weil wir gar keine Aussenpolitik hatten, höchstens eine Aussenhandelspolitik.» Auf eine Intervention aus dem Publikum, dass nur gerade 50.3% abstimmen gegangen seien, als es um die Änderung des Artikels 121 a in der Bundesverfassung gegangen sei und diese 50.3% längst nicht die Mehrheit repräsentiert hätten, meinte Daniel Jositsch, nicht ohne ärgerliches Bedauern, dass die andere Mehrheit es vorgezogen habe zu schweigen: «Wir gehen nicht wählen, weil es uns zu gut geht!» Diese Meinung teilte Adolf Muschg: «Wir sind nun wirklich das satteste, fetteste und reichste Land dieser Welt – und wenn wir von diesem Fett nichts abgeben möchten, müssen wir uns schämen!» Wir hätten in der Schweiz eine europäische Geschichte, die sich sehen lassen könne, die Schweiz habe etwas zu bieten. Die drei Männer waren sich am Freitagabend im Kirchgemeindehaus absolut einig: Für unser Heimatland gebe es nur den europäischen Weg. (ft)

 

 

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