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28/2017 Ein Mann für alle Fälle

Von adminZoZuBo ‒ 13. Juli 2017

Ein Mann für alle Fälle

29 Jahre lang war Andreas Blättler als Weibel unterwegs: Erinnerungen an Zollikon, Australien, Finnland und Chile.

Er ist ein klarer Fall von Understatement. Eigentlich habe er doch nichts zu erzählen, meint Andreas Blättler. Da waren ja nur die Reisen nach Australien, nach Chile (wo mitten im Nichts die Lichtmaschine des Autos in die Knie ging), nach Finnland, wo er im Schlafsack auf dem Fünf-Meter-Turm eines Strandbads am See schlief oder die vielen Fahrten über die Schweizer Pässe. Eins ist klar: Andreas Blättler muss immer unterwegs sein, und dafür hatte er genau den richtigen Beruf: 29 Jahre und drei Monate lang war er der Weibel von Zollikon. Am 31. Mai ging es für ihn nun in den Unruhestand. Was ein Weibel sei? «Das Mädchen für alles», lacht der 65-Jährige. Er musste Betreibungen zustellen, die interne und externe Post verteilen, zum 90. Geburtstag die Blumen zustellen, interne Botendienste übernehmen, den Büromaterial-Einkauf für die Gemeinde organisieren oder auch Stimmregister und Unterschriften kontrollieren. Eigentlich ist Andreas Blättler gelernter Färber, doch über das Toggenburg und Basel kam er nach Zürich, wo er als «Mann für alle Fälle» die internen Dienste des Bankvereins übernahm. Als er von der freien Weibel-Stelle in Zollikon erfuhr, habe er sich sofort beworben und die Stelle bekommen. «Ich habe einfach kein Sitzfleisch, ich muss in Bewegung sein», gibt der Pensionär zu. Und so wundert es nicht, dass er im Jahr 1972, als es erstmals das Interrail-Ticket gab, sofort zuschlug und für 200 Franken durch Europa fuhr. Einmal vom Reisefieber gepackt, ging es im Jahr darauf mit dem ausgestreckten Daumen durch die Europa. «Als mir klar wurde, dass mein Englisch nicht wirklich gut war, bin ich noch für einen Monat nach Canterbury gereist, um die Sprache zu lernen», erinnert er sich. Bei seinen insgesamt fünf Reisen nach Finnland habe das ihm nicht geholfen. «Aber ich habe einen Deutschen kennengelernt, der Finnisch sprach.» In der Disco wurde so manche junge Frau angesprochen, ob sie nicht einen Schlafplatz anbieten könne. Eine konnte. Und so wurden die Reisenden mitgenommen und im Gästezimmer neben der Sauna untergebracht. «Da sind wir gleich ein paar Tage geblieben», schmunzelt Andreas Blättler. Wenn keine junge Frau eine solche Chance bot, ging es eben einfach auf den Sprungturm. Doch irgendwann wurde das Wetter schlecht, die Burschen zogen in die Umkleidekabine um. Die Putzfrau, die am nächsten Morgen ihren Dienst antrat, habe nicht schlecht gestaunt.

Respekt beim Geldeintreiben

Als er in Zollikon als Weibel angefangen habe, habe er vor allem vor den Zahlungsbefehlen grossen Respekt gehabt. Als Überbringer schlechter Nachrichten ist man nicht sehr willkommen. Doch Andreas Blättler machte auch andere Erfahrungen. Manchmal sei er auf einen Kaffee eingeladen worden, die Zahlungsunwilligen hätten ihm ausführlich berichtet, wie es zu den Schulden gekommen sei. Einmal habe ein Schuldner den Zahlungsbefehl vor seinen Augen zerrissen. Doch zwei Stunden später sei auch der wieder reumütig auf der Matte gestanden. Ein Hauptbestandteil seiner Arbeit war die sogenannte «Mappentour». Da wurde am Abend den Gemeinderäten ihre persönliche Post zugestellt, am Morgen wurde die Post wieder abgeholt. Auch hier gab es die unterschiedlichsten Charaktere. Manche liessen sich die Mappen in der Garage deponieren, bei anderen hatte er einen Wohnungsschlüssel.. «Bei den Borsaris zum Beispiel war es fast familiär.» Er hat ein altes Foto dabei aus dem Jahr 1993, auf dem er einen Welpen der Familie auf dem Arm hält. Das Bild zeigt auch die Kleidervorschriften mit Krawatte, blauem Hemd und blauer Hose. Diese sind längst abgeschafft. Natürlich habe er bei seinen Touren durch Zollikon so einiges mitbekommen, erzählen will er davon nicht. Immer mehr sei im Laufe der Jahre auf seinem Schreibtisch gelandet. So sei er dann auch für die Abrechnungen der Frankiermaschine verantwortlich gewesen und dafür, dass am Ende die Zahlenstimmten. «Plötzlich war ich auch noch Buchhalter, aber irgendwie habe ich mir das alles beigebracht.»

Seit 20 Jahren neben Heidi

Was er sich auch selber beigebracht hat, ist das Kochen. Profitieren tut davon Heidi – seine 81-jährige Nachbarin. Es tönt köstlich, wenn er von einer seiner Spezialitäten erzählt: Mistkratzerli im Glas. Genüsslich erklärt er, wie das Gemüse in das Glas kommt, dann der Weisswein. Das Mistkratzerli wird mit Kräutern gefüllt, dazu kommt noch Mark aus Kalbsknochen. Nach einer Stunde im Backofen würde das Fleisch nur so vom Knochen fallen. Heidi – sie taucht immer mal wieder auf in den Erzählungen. Seit 20 Jahren schon wohnt Andreas Blättler neben der alten Dame und kümmert sich ein bisschen, nimmt sie mit auf Ausflüge, bekocht sie eben oder serviert ihr einen guten Tropfen aus dem eigenen Weinkeller. Grosse Pläne für die Zukunft hat der Pensionär nicht. In seinem Steingarten mit den wunderschönen Baum- und Buschrosen gebe es genug zu tun, soeben hat er einem Freund die CD-Sammlung abgekauft, die gilt es zu sortieren. Vielleicht werde er sich doch mal wieder in seinen Flitzer setzen, um über die Pässe zu fahren. Oder er werde sich eine Handvoll SBB-Tageskarten besorgen und nur mit einem kleinen Rucksack die Schweiz erkunden. So wie er es vor Jahrzehnten mit seinen Eltern gemacht hat. «Heute hier, morgen dort», war damals das Motto einer ganzen Woche. Als er das ein paar Jahre später wiederholen wollte, haben die abgewunken. Vielleicht findet man ihn aber auch im Engadin, wo er gerne wandert. Fernreisen stehen nicht mehr auf dem Programm – so wie damals als es nach Australien ging und Andreas Blättler sich am Wasserskifahren, Tauchen und River-Rafting versuchte oder als er Sri Lanka erkundete. «Mir reichen die Flugzeuge, die jeden Morgen über mich weg donnern», meint er. Eigentlich spannend, wieviel passieren kann und man trotzdem meint, nichts zu erzählen zu haben. (bms)

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