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29/2017 Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht

Von adminZoZuBo ‒ 21. Juli 2017

«Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht»

Die diesjährige 1.-August-Ansprache auf der Zolliker ­Allmend hält Jeannine Pilloud. Die Chefin Personenverkehr bei den SBB über Erwartungshaltungen und warum wir kritisieren, auf was wir stolz sind. Egal, ob bei Roger Federer oder Interregiozügen.

Mit Jeannine Pilloud sprach Melanie Marday-Wettstein

Am Wochenende schrieb Roger ­Federer mit seinem 8. Wimbledon-Sieg Sportgeschichte. Jeannine ­Pilloud, auf wen oder was dürfen wir Schweizer neben unserem Tenniskönig noch stolz sein?

Auf King Roger sollten wir wirklich extrem stolz sein! Bleiben wir doch gerade bei ihm. 2011 taufte ich mit ihm zusammen eine Lok in Basel, was mir – zur riesigen Freude und zum ganzem Stolz meiner Eltern, den allergrössten Federer-Fans überhaupt – ein Foto bescherte, das mich in kleidsamer oranger Weste neben unserem Tenniskönig zeigt. Zur Krönung lud dieser meine Eltern zum damaligen Finalspiel der Swiss Indoors ein. Natürlich wusste er da noch nicht, ob er den Final erreichen würde – er tat es dann, und meine Eltern feuerten ihn mit persönlich und mit ihren Vornamen signierten Federer-Käppli auf dem Kopf an. Diesen Tag werden sie nie mehr vergessen.
Roger Federer verkörpert für mich einen ganz wichtigen Wert: den der Dankbarkeit. Nach dem geschichtsträchtigen Sieg bedankte er sich bei seiner Familie und der ganzen Schweiz. Er hat seine Wurzeln nie vergessen und das finde ich wunderschön. Und um Ihre Frage zu beantworten: Wir können stolz sein auf unser gesamtes Land, dem und dessen Infrastruktur wir so vieles zu verdanken haben.

Stolz sind Sie sicher auch auf den Gotthard-Basistunnel. Wie zufrieden sind Sie mit dem ersten halben Jahr seit der Inbetriebnahme des weltweit längsten Eisenbahntunnels?

Es funktioniert sehr gut und der Tunnel kommt gut an. Was aber zu Beginn dazu führte, dass beinahe zu viele zur gleichen Zeit mit dem Zug durch den Gotthard wollten. Aber das sind wir uns gewohnt, in der ersten Saison müssen wir Erfahrungen sammeln und entsprechend reagieren. Für uns nicht vorhersehbar war, dass plötzlich alle Wochenendaufenthalter zeitgleich mit den Touristen nun ebenfalls am Sonntagabend zurückfahren wollten. Früher war die Verteilung besser. Wir mussten rasch Entlastungszüge einsetzen, mittlerweile hat sich die Lage aber entspannt. Unsere Sporen haben wir uns auf jeden Fall abverdient, und die Reisefreudigkeit der Schweizer Richtung Italien hat dank der schnellen Verbindung definitiv zugenommen.

Bleiben wir noch ein wenig beim Sport. Sie sind ehemalige Spitzenschwimmerin, heute bei den SBB Chefin von 14’000 Mitarbeitenden. Welche Eigenschaften aus der Sportwelt konnten Sie für Ihre Führungsposition bei den SBB mitnehmen?

Der Sport hat mich gelehrt, mich selber einzuschätzen. «Set expectation, meet expectation.» Ich weiss, was ich kann und was nicht. Aus meiner Zeit als Leistungssportlerin ist mir bewusst, wie viel Aufwand teilweise betrieben werden muss, um auch nur eine halbe Sekunde schneller zu sein. Das ist im Bahnverkehr natürlich genauso (lacht). Auch im Geschäftsleben braucht es diese Hartnäckigkeit und oft Geduld. Als 1996 über den Gotthard-Basistunnel abgestimmt wurde, kamen einem die 20 Jahre enorm lang vor. Doch während all dieser Jahre ist immer etwas gelaufen und viele Leute von damals sind heute unheimlich stolz, haben sie an diesem Gewaltprojekt mitgewirkt, und das über Jahrzehnte! Wer etwas erreichen will, muss dranbleiben. Eine Qualität, die wir Schweizer uns zu eigen machen.

Sie wohnen in Zollikon, von wo aus Sie täglich den Zug nach Bern nehmen. Finden Sie noch Zeit, um im Zürichsee zu schwimmen?

Die finde ich und es wäre jammerschade wenn nicht, wohnen wir doch direkt unterhalb des Bahnhofes, also zwischen Bahnlinie und Seestrasse. Ich kann quasi im Bademantel und Flipflops über die Seestrasse und in den See springen, was mein Mann und ich gemeinsam auch regelmässig machen.

Auf Ihrer Zugreise nach Bern sitzen Sie immer auf einem anderen Platz, abwechslungsweise in der 1. oder 2. Klasse, mal oben im Waggon, mal unten, teilweise ­fahren Sie in Fahrtrichtung oder rückwärts gerichtet. Welche Erkenntnisse haben Sie aus den ­verschiedenen Blickwinkeln gewonnen?

Mir wurde bewusst, dass die Leute sich genau überlegen, wohin sie sich setzen. Geschäftsleute setzen sich beispielsweise woanders hin als solche, die Zeitung lesen wollen. Aber nicht nur das Sitzverhalten ist mir aufgefallen, ich habe auch konkreten Handlungsbedarf registriert. So haben wir bei den neuen Zügen mehr WCs eingebaut. Auf einer Fahrt von Fribourg nach Zürich habe ich Striche gemacht, wie oft die Zugtoilette in dieser Zeit benutzt wurde. Ganze 63 Mal! Die Leute haben sich quasi die Klinke in die Hand gegeben. Da war mir klar, dass wir reagieren müssen. Aufgefallen ist mir ebenso das störende Licht im doppelstöckigen IC 2000. Bei der Überarbeitung dieses Zuges werden wir nun das Lichtkonzept ändern, das sich neu dem Tageslicht anpassen wird. Zudem haben wir weitere Züge mit Leselampen ausgerüstet, welche beim neu bestellten Rollmaterial Standard sein werden. Damit soll ein besseres Wohngefühl entstehen, die Reisenden sollen sich wie zu Hause fühlen.

Ein Zugabteil soll also ein Wohnzimmer sein und kein Mittel, um möglichst schnell und komfortabel von A nach B zu kommen?

Diese Vorstellung habe ich tatsächlich, aber natürlich braucht es die gegenseitige Rücksichtnahme der Reisenden wie eben in einem grossen Wohn- oder Gemeinschaftszimmer (lacht). Verschwitzte Füsse auf Polstern sind störend, und der eigene Abfall sollte wieder mitgenommen werden – aus Respekt vor den Mitreisenden. Trotz allem Komfort und Bequemlichkeit, der Zug ist immer noch öffentlicher Raum, dessen muss man sich einfach bewusst sein.

Momentan ist Ferienzeit, viele zieht es ins Ausland, wo man sich häufig nach öffentlichen Verkehrsmitteln sehnt, wie wir sie kennen: sauber, mit schnellen Verbindungen, klimatisiert und pünktlich. Und doch regen sich hier viele auf, wenn der Zug drei Minuten zu spät kommt oder die Klimaanlage ausfällt. Haben Sie dafür Verständnis?

Wir werden gemessen an dem, was hier ist und wir hier zu bieten haben. Der grosse Unterschied zum Ausland ist sicher, dass wir alles kennen: den Nah-, den Regional- und den Fernverkehr. Daraus entstehen gewisse Ansprüche. Unser ÖV ist gut, im Fernverkehr sind wir aber nicht besser oder schlechter als die anderen auch. Die Frecciarossa-Züge in Italien sind unheimlich bequem, sehr pünktlich und alles funktioniert bestens. Im Nahverkehr werden die Unterschiede aber grösser. Unsere zweistöckigen Züge in der Region Zürich suchen sicher ihresgleichen. Diese Erfahrungen machen die Leute im Ausland aber nicht und so habe ich für diese Erwartungshaltungen auch grosses Verständnis. Es ist doch wie bei Roger Federer. Hier wollen doch auch alle stolz auf ihn sein und bei einem Doppelfehler verwerfen wir die Hände und üben Kritik, obwohl wir es ja besser auch nicht könnten. Wer auf etwas stolz ist, ist doch auch viel kritischer.

Hat die schnell geäusserte Kritik vielleicht auch damit zu tun, dass die Bahn dem Bund gehört und damit den Steuerzahlern? Wenn man das Gefühl hat, man sei mitverantwortlich, ist man doch auch kritischer.

Der Anspruch wird dadurch bestimmt nochmals um einiges höher, das ist sicherlich so.

Wie stellen Sie sich das Reisen in zehn Jahren vor?

Solange die Leute physisch unterwegs sind und sich von der Körperstruktur her nicht gross verändern, wird sich auch das Innere des Zuges nicht gross ändern. Es wird vielleicht noch etwas luxuriöser, vor 20 Jahren konnten wir uns beispielsweise auch noch nicht vorstellen, dass jeder Regionalzug klimatisiert ist. Aber allzu viel Luft nach oben ist hier nicht mehr, wir reisen heute wirklich schon sehr bequem. Was sich aber ändern wird, sind die ganzen Mobilitätsketten. Heute sind die einem bekannten Wege einprogrammiert und abgespeichert, in Zukunft werden wir bereit sein, diese auch mal zu ändern. Weil wir zeitnahe Infos erhalten, wann wir wo umsteigen können, um noch schneller ans Ziel zu kommen. Wir erhalten digitale Anzeigen unserer Reiseketten, was nochmals Stress aus dem Reisen nimmt.

Wird es je eine SBB ohne Zugbegleiter geben?

Die Zugbegleiter wird es geben solange Menschen physisch mit dem Zug unterwegs sein werden, davon bin ich überzeugt. Wir transportieren so viele Menschen, da braucht es Betreuungspersonen, die beraten und begleiten, in einem medizinischen Notfall auch wissen, was zu tun ist. Das Berufsbild des Zugbegleiters wird sich verändern, ihre Aufgabenbereiche werden vielfältiger, aber es wird sie zweifelsohne brauchen.

Kommen wir noch auf den 1. August zu sprechen. Was bedeutet Ihnen unser Nationalfeiertag?

Für mich ist es der Tag des Stolzes auf seine Herkunft. Ich bin hier geboren, hatte trotz längeren Auslandaufenthalten immer nur einen Pass und je älter ich werde, desto stolzer bin ich auf meine Herkunft. Am Nationalfeiertag wird einem das noch stärker bewusst und ­dieses Heimatgefühl wird zusammen gefeiert, was ich sehr schön finde.

Der Solidaritätsgedanke war 1291 sehr mächtig. Wie empfinden Sie diesen heute in unserem Land?

Den gibt es auch heute noch und er zeigt sich ganz unterschiedlich. Bei uns im öffentlichen Verkehr zum Beispiel bei den Tariferhöhungen, die immer nach dem Solidaritätsprinzip funktionieren. So beim Gotthard-Basistunnel, den alle mitfinanzieren und nicht nur jene, die diese Strecke fahren. Ich muss aber klar sagen, dass auch hier nicht einfach unbegrenzt Luft nach oben ist. Heute zahlen unsere Kunden für Leistungen, die sie auch effektiv erhalten. Viel mehr liegt nicht mehr drin. Auch die gesamte Vereinslandschaft in unserem Land funktioniert doch dank des Solidaritätsgedankens. Dass in einer kleinen Gemeinde wie Zollikon ein eigenes Hallen- und Freibad betrieben wird, das allen zu einem sehr günstigen Preis offensteht, gehört genauso zu dieser Solidarität. In anderen Ländern wäre dieses privatisiert und stünde nur Mitgliedern offen, die bereit sind, tief dafür ins Portemonnaie zu greifen. Doch bei uns sollen alle Zugang zur Infrastruktur haben, was enorm wertvoll ist. Genauso ist es bei den Ausbildungen: Wer die Leistung bringt, bekommt eine gute Ausbildung und nicht der, der einfach das Geld dafür aufbringen kann. Das nennt sich Solidarität.

Die Schweiz feiert dieses Jahr ihren 726. Geburtstag. Was wünschen Sie dem Geburtstagskind?

Ich habe zwei. Und zwar wünsche ich uns allen, dass unsere Werte bestehen bleiben. Dennoch sollen sie uns nicht daran hindern, progressiv zu sein. Leute, die meinen, wenn alles verhindert wird, werde sich auch nichts verändern, liegen falsch. Wir müssen uns klug überlegen, wie Entwicklungen vorangetrieben werden können, um das Beste für uns alle herauszuholen. Wir müssen uns unserer politischen Lage mitten in Europa bewusst sein. Wir sind keine Insel, wir sind in der Mitte und müssen mitwirken. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, mit keinem Geld der Welt kann man sich diese kaufen. Und die ganze Digitalisierung führt zu zusätzlichen Veränderungen. Wenn es uns aber gelingt, die solidarischen Werte beizubehalten, werden wir uns auf die richtige Art und Weise verändern.

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