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30_31/2019 Interview Werner Widmer

Von adminZoZuBo ‒ 26. Juli 2019

«Der gemeinsame Wille verbindet uns»

Posiert vor dem Spital Zollikerberg, das zur Stiftung Diakoniewerk Neumünster gehört: Gesundheitsökonom Werner Widmer. (Bild: mmw)

Die diesjährige 1.-August-Rede im Wohn- und Pflegezentrum Blumenrain und anschliessend auf der Zolliker Allmend hält Werner Widmer. Der Gesundheitsökonom und Gewinner des Wettbewerbs für die neue Schweizer Nationalhymne über den Wert der Freiheit, die hohen Kosten des Gesundheitswesens und darüber, dass es kein ­Verdienst ist, Schweizer zu sein. 

Mit Werner Widmer sprach Melanie Marday-Wettstein

Werner Widmer, 2014 hatten Sie eine neue Version der Nationalhymne beim Ideenwettbewerb der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft eingereicht und gewonnen. Wie oft haben Sie Ihre eigene Hymne schon gesungen?

Für mich privat unendlich viele Male. An offiziellen Anlässen ungefähr fünf Mal. 

Wie ist es seither weitergegangen mit der Hymne?

Organisiert hatte die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft den Wettbewerb ja aus dem Grund, weil sie jedes Jahr die 1.-August-­Feier auf dem Rütli veranstaltet. Dazu lädt sie auch Botschafter anderer Länder ein. Vor einigen Jahren hatte man die Liedblätter vergessen oder der Wind hatte sie weggeblasen. Auf alle Fälle sang beim zweiten Vers des Schweizerpsalms kaum mehr jemand mit. Das hat die ausländischen Gäste irritiert und einer der Botschafter fragte, warum die Schweizer ihre Nationalhymne nicht besser auswendig kennen. Das liege am altertümlichen Text, er werde kaum verstanden, bekam er als Antwort. Darauf hat die Schweizerische ­Gemeinnützige Gesellschaft den Wettbewerb für einen neuen Text zur Melodie von «Trittst’ im Morgenrot daher» ausgeschrieben. Dieser neue Text soll die Gedanken und Werte der Präambel der Bundesverfassung aufnehmen. Das, was die Schweiz vereint. Seither wird auf dem Rütli die erste Strophe des Schweizerpsalms gesungen, im Anschluss meine neue Strophe. Im letzten Jahr nahmen rund 1000 Leute an den Feierlichkeiten auf dem Rütli teil. Der neue Text wurde hörbar lauter gesungen als der alte. Für mich ein Indiz, dass er eine Chance hat. So denke ich, dass es in fünf, sechs Jahren eine Volksabstimmung über die neue Hymne geben könnte.

Warum haben Sie beim Wettbewerb mitgemacht?

Bevor ich mein Ökonomiestudium in Angriff nahm, hatte ich Musiktheorie studiert und auch abgeschlossen. Ich weiss also, wie man einen Text auf eine Melodie abstimmt, sodass es nicht nur vom Rhythmus her stimmt, sondern dass Text und Melodie auch inhaltlich zueinander passen. Und die Herausforderung der Vorgabe hat mich gereizt.

Mit «Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund: Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden» stellen Sie in Ihrem Liedtext die Werte der Schweiz in den Mittelpunkt. Haben Morgenrot und Alpenfirn ausgedient? 

Der Text unserer aktuellen Nationalhymne stammt von 1841 und wurde erst 1981 zur offiziellen ­Nationalhymne erklärt. Er war also damals bereits veraltet. Er ist eine Mischung aus einem Gebet und einer Naturbeschreibung, die heute kaum mehr jemanden anspricht. Eine Nationalhymne sollte beinhalten, was ein Volk vereinigt. Mit einer Nationalhymne sollten sich die grosse Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger identifizieren können.

Die Nationalhymne wird also modernisiert. Wo braucht die Schweiz Ihrer Meinung nach auch noch Mut zur Veränderung?

Die Präambel der Bundesverfassung mit ihren Werten ist eine sehr gute Basis für unser Land. Bevor Veränderungen in Angriff genommen werden, sollte sichergestellt werden, dass diese Werte präsent sind. Wenn dieses Fundament mit Frieden, Unabhängigkeit, Demokratie, Solidarität, Offenheit gegenüber der Welt, aber auch mit den sozialen Aspekten, nämlich, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst, sicher ist. Und wenn man diese Werte auch in politischen Diskussionen deutlicher aussprechen würde, dann bin ich überzeugt, dass auch der Mut zur Veränderung kommt. Denn nur wenn die Wurzeln stark sind, kann ein Baum flexibel wachsen und sich entwickeln, ohne dass er bei von einem Windstoss ausgerissen wird. Je mehr wir uns dieser Werte bewusst sind, desto zuversichtlicher kann die Schweiz in die Zukunft schauen. Uns Schweizern geht es sehr gut, wir leben mit Abstand besser, als unsere Grosseltern gelebt haben. Wir leben seit Jahrzehnten im Frieden. Wir haben einen hervorragenden Zugang zu unserem Gesundheitswesen, die Bildung ist für alle da, die Wirtschaft läuft, die Arbeitslosigkeit ist tief. Ein Verdienst, als Schweizer geboren worden zu sein, ist es aber nicht. Das ist reiner Zufall. Ich hätte gerade so gut in einem Slum in Afrika geboren werden können. Deshalb sollten wir uns unserer Verantwortung für die gesamte Welt mehr bewusst sein und nicht nur unsere Vorteile geniessen. 

Als Gesundheitsökonom und Direktor der Stiftung Diakoniewerk Neumünster werden Sie das Gesundheitswesen oder die Spitallandschaft sicherlich zum Inhalt Ihrer diesjährigen 1.-August-Ansprache wählen.

Nicht unbedingt, nein. Ich werde mehr über die Werte der Schweiz erzählen und darüber, dass die Freiheit für mich einer der wichtigsten ist. Er kommt übrigens auch als einziger Wert zweimal in der Präambel vor und auch in meinem neuen Hymnentext. Ich komme darauf zu sprechen, was die Freiheit angesichts der Digitalisierung bedeutet. 

Was verstehen Sie ganz persönlich unter Freiheit? Welche Freiheiten nehmen Sie sich? 

Auch darauf werde ich in meiner Rede zu sprechen kommen. Nur so viel: Unabhängig ist eigentlich ­niemand. Wir alle sind abhängig von Umständen, von anderen Menschen, von unserer Umgebung, Situationen und Umständen, von der Natur. Doch Freiheit heisst, selbst zu bestimmen, in welchem Ausmass man von anderen Sachen und Menschen abhängig sein will. 

Worauf dürfen wir Schweizerinnen und Schweizer besonders stolz sein? Bestimmt doch auf unser Gesundheitswesen.

Unser Gesundheitswesen ist gut. Doch wir leben in einer Überversorgung mit unnötigen Leistungen. Unser Gesundheitswesen ist zu teuer. Das Geld, das wir zu viel ins ­Gesundheitswesen fliessen lassen, fehlt für andere Sachen, die für die Öffentlichkeit mindestens so wichtig wären wie zum Beispiel die Bildung. Wenn unser Gesundheitswesen in den letzten 15 Jahren gleich gewachsen wäre wie das Brutto­inlandprodukt, wäre es heute ungefähr sieben Milliarden billiger. Geld, mit dem man die Zahl der Lehrerstellen in der Volksschule verdoppeln könnte. Unser Gesundheitswesen ist wie ein grosses Meerschiff, das niemand bremsen kann. Die Verhältnisse sind wirklich extrem, was vielen gar nicht bewusst ist, da die Finanzierung über verschiedenste Ecken läuft. Im Durchschnitt zahlt der Schweizer 10 000 Franken pro Jahr für das Gesundheitswesen. In den Pflegeheimen und den Spitälern gibt es mehr Übernachtungen als in allen Hotels der Schweiz zusammen, das Gesundheitswesen ist die grösste Branche. Dessen muss man sich einfach bewusst sein. 

Spitäler stehen nicht in einem globalen Wettbewerb. Ist das der Grund, dass sich in der Spitallandschaft wenig tut?

Das scheint mir einer der Gründe zu sein. Die Leistungen für die Patienten können wir nicht in ein Billiglohnland verlagern. Die Spitäler haben quasi lokale Monopole, sucht ein Patient doch häufig das nächstgelegene Spital auf. Deshalb ist der Wettbewerb nicht sehr gross. Doch die Bevölkerung wird wachsen, allen voran die alte. Nicht zunehmen wird hingegen die arbeitende Bevölkerung, jene zwischen 20 und 65 Jahren, diese bleibt in den nächsten 15 Jahren beinahe konstant. Dies bedeutet, dass der Wettbewerb im Gesundheitswesen nicht so sehr jener um Patienten sein wird, sondern viel deutlicher im Arbeitsmarkt stattfindet. Es geht um Fachkräfte. Spitäler werden schliessen müssen, wenn sie nicht attraktiv sind als Arbeitgeber. Ein Spital, in dem ein schlechtes Klima herrscht, die Mitarbeitenden miteinander verkracht sind und ­interprofessionell nicht gut zusammengearbeitet wird, hat heute bereits Probleme, seine Stellen zu besetzen. Es wird zu einer Strukturbereinigung kommen. 

Und wie sieht die Zukunft der Spitäler aus?

Spitäler sind gut beraten, in ihre Betriebskulturen zu investieren. Sie werden sich insofern verändern, als dass mehr Operationen und Behandlungen ambulant, also ohne Übernachtung, durchgeführt werden und auch die Aufenthaltsdauer im stationären Bereich weiter zurückgehen wird. Aus diesen beiden Gründen wird es viel weniger Spitalbetten brauchen. Es könnten aber noch grösserer Veränderungen spruchreif werden. Kürzlich haben wir in Schottland ein Spital besucht, das «Hospital at Home» anbietet: Wer chronisch krank ist und in ein Spital müsste, soll dort nach Möglichkeit zu Hause bleiben können. Das Spital findet zuhause bei den Patienten statt, Arzt und Pflegefachkräfte kommen in die eigenen vier Wände. Gerade für ­ältere Leute scheint sich das zu eignen.

Zurück zum 1. August: Was bedeutet Ihnen unser Nationalfeiertag?

Seit dem Ideenwettbewerb um die neue Nationalhymne bin ich fast jedes Jahr aufs Rütli gegangen. Gerade weil ich weiss, dass es kein Verdienst ist, bin ich dankbar, Schweizer zu sein. Ich finde es gut, dass wir uns einmal im Jahr feiern, und auch wichtig, dass wir uns ­Gedanken machen über den Sinn, den Auftrag, die Verantwortung und die Möglichkeiten der Schweiz. Trotz unserer Vielfalt mit den verschiedenen Landessprachen und Religionen, trotz unserer unterschiedlichen Typen fühlen wir Schweizer uns als Nation. Wir sind eine Willensnation, die gemeinsame Werte gemeinsam leben möchte. Der Wille der Schweiz, in ihrer Vielfalt eine Einheit zu bilden, ist der Punkt, an den wir uns an unserem Nationalfeiertag immer wieder erinnern sollten. Daher finde ich den 1. August als Feiertag wichtig. 

Die Schweiz feiert dieses Jahr ­ihren 720. Geburtstag. Was wünschen Sie dem Geburtstagskind?

Mehr Zuversicht angesichts von Veränderungen, denn diese braucht es immer. Nur eine perfekte Welt braucht keine Veränderungen. Und perfekt ist nichts. Zu verbessern, der Zeit anzupassen, gibt es immer etwas und das heisst noch lange nicht, dass das Alte schlecht war. Doch nicht jede Lösung, die in der Vergangenheit gut war, ist es auch in der Zukunft. 

1.-August-Feierlichkeiten in Zollikon: Ab 16 Uhr im WPZ Blumenrain, ab 18 Uhr auf der Zolliker Allmend. Um 20.45 Uhr eröffnet Gemeindepräsident Sascha Ullmann nach einem musikalischen Auftakt durch die Harmonie Zollikon die offizielle Feier, anschliessend hält Werner Widmer seine Rede. Sängerinnen und Sänger des Kinderchors «Ohrewürm» tragen den Hymnentext von Werner Widmer und zwei weitere Lieder vor.
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