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«Wandern ist Weite»

Von adminZoZuBo ‒ 29. November 2019

Auch wenn der Regen waagrecht fliesst, hält das Thomas Widmer nicht von seiner Leiden­schaft, dem Wandern, ab. Im Interview erzählt er, was ihm die Berge bedeuten, was es braucht und warum er eine Neurose gegen Hüttenübernachtungen entwickelt hat.

Herr Widmer, Sie werden auch gerne als Wanderpapst betitelt. Gefällt Ihnen das?

Der «Spiegel» hat diesen Titel für mich mal gefunden und irgendwie hat er sich durchgesetzt. Für mich ist das zweischneidig. Auf der einen Seite schmeichelt es mir natürlich. Klingt schon gut. Auf der anderen Seite komme ich aus Appenzell Ausserrhoden. Dort ist es noch reformierter als in Zürich. Der Papst gehörte somit wirklich nicht zum Inventar meiner Kindheit. Ich nehme die Bezeichnung einfach mit einem Schmunzeln.

Sie waren kürzlich mit einem ­Vortrag zu Gast beim Tourenclub Zollikon. Ersetzen Sie im Winter die Wanderschuhe durch Skis?

Skitouren mache ich keine, weil ich zu sehr Respekt vor Lawinen habe; ich besitze nicht einmal Skis. Im Winter wandern wir auf gespurten Pisten oder im Flachland, wo kein Schnee liegt.

Für einen Wanderer muss doch das Motto «Der Weg ist das Ziel» gelten, oder?

Auf jeden Fall. Wandern ist Unterwegssein, die Bewegung ist wichtig. Schritt für Schritt dem Ziel näherkommen. Das heisst aber auch, dass das Ziel dann doch auch wichtig ist.

Sie wandern oft mit Stöcken. Helfen die mehr beim Aufstieg oder beim Abstieg?

Auf jeden Fall beim Abstieg. Wenn es über längere Zeit brutal abwärts geht, muss ich die einsetzen. Manchmal habe ich am Abend dann sogar Muskelkater in den Armen. Ich habe die Stöcke zwar immer dabei, wäge aber gut ab, wann ich sie einsetze. Durch den Einsatz von Stöcken geht ein bisschen das Balancegefühl verloren.

Sie gehen gerne in Gesellschaft: Um sich zu unterhalten oder um gemeinsam zu schweigen?

Die Mischung macht es. Am vergangenen Wochenende war ich mit Freunden unterwegs und wir haben während der Wanderung die aktuelle Entwicklung im Iran diskutiert. Eine gute Wanderfreundschaft hält aber auch das Schweigen aus. Eine Wanderung sollte nicht von vorne bis hinten mit Worten gefüllt werden. Grundsätzlich gehe ich aber lieber in Gesellschaft als alleine.

Gehört zu einer Wanderung das Picknick oder das Essen in einer Hütte?

Auf jeden Fall die Hütte. Es ist doch einfach schön, dass es Menschen gibt, die mitten in der Pampa eine Wirtschaft betreiben. Wo es warm ist, wo es feines Essen gibt. Das muss durch einen Besuch gewürdigt werden.

Gilt dann bei der Einkehr wie beim Ski-­Einkehrschwung: kein Alkohol?

Zunächst gilt: gutes Essen. Damit meine ich kein Gourmet-­Dinner. Ich mag gerne Fisch, mag es auch mal deftig. Es müssen einfach gute Zutaten sein. Und dann darf für mich auch das eine oder zweite Glas Wein nicht fehlen.

Macht das nicht die Beine schwer?

Im Gegenteil. Das macht die Beine wunderbar leicht. So ein Glas hilft einfach gegen den Grundschmerz (lacht). Wandern ist ja nicht nur, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Wandern ist Kultur, Bewegung, Freundschaft und dazu gehört auch der kulinarische Aspekt.

In einer Hütte schlafen möchten Sie aber nicht.

Nein, da bin ich neurotisch. Ich mag diese Gleichschaltung nicht. Ich möchte nicht, dass mir jemand sagt, wann ich ins Bett gehen soll und wann ich wieder aufzustehen habe. Ich verstehe absolut, dass das organisatorisch nötig ist. Es ist einfach nicht meins. Da nehme ich den Abstieg in Kauf und suche mir ein kleines Zimmer in einer Pension.

Was machen Sie, wenn Sie sich mal verlaufen?

Ich bin wirklich kein Star-­Navigator. Aber mit der App von Schweizmobil bin ich auf der sicheren Seite. Ich lade mir am Vorabend die Route herunter und kann während der Tour dann per GPS meinen Standort ermitteln – wenn ich mal wirklich unsicher sein sollte. Ich wandere oft mit Kollegen – also einer kritischen Meute. Da gibt es natürlich fiese Kommentare, wenn ich das Natel zücke. Auf der anderen Seite kann es bei Dämmerung oder Nebel schon sehr hilfreich sein, wenn man weiss, was einen auf den nächsten Metern erwartet.

Sie selber wanderten als Kind nicht gerne. Haben Sie Tipps, wie man den Nachwuchs fürs Wandern begeistern kann?

Zunächst ist es wichtig, die Strecke zu halbieren oder – je nach Alter der Kinder – sogar zu vierteln. Ausserdem gilt es, spannende Teilziele parat zu haben: einen Wasserfall oder eine Trottinett-­Abfahrt. In vielen Gegenden gibt es auch spannende oder coole Sagen, die erzählt werden können. Ich selber war ein eher intellektuelles Kind, hätte lieber gelesen als die Wanderschuhe anzuziehen. Erst in der Stadt als Student habe ich die Berge wieder für mich entdeckt. Die Stadt ist Enge, zeitlich und örtlich. Wandern ist Weite. Es gibt keine Termine. Wenn Ihr Kind jetzt nicht gerne wandert, heisst das also noch nichts für die Zukunft.

In den Bergen sind nicht nur Wanderer unterwegs. Es gibt noch Nordic-­Walker, Jogger, Mountainbiker – neuerdings auch mit E-­Bikes. Wird Ihnen das nicht langsam zu voll?

Es gibt ein paar Wochen im Herbst, da ist es richtig voll. Das Appenzellerland sollte man meiden. Grundsätzlich muss man einfach antizyklisch gehen und nicht auf die gängigen Routentipps hören. Für jede Region gibt es zwei, drei Routen, die alle begehen. Dabei gibt es so viel mehr.

Wann hört das Spazierengehen auf und fängt das Wandern an?

Das Lexikon sagt: ungefähr bei einer Stunde. Für mich gibt es aber nicht nur den zeitlichen Unterschied. Der Flaneur bummelt eher, hat nicht wirklich ein Ziel. Der Wanderer trägt nicht nur das passende Schuhwerk, sondern hat ganz klar sein Ziel vor Augen.

Apropos Schuhe: Wie viel Geld muss ich für eine vernünftige Ausstattung ausgeben?

Für gute Schuhe zahlt man um die 270 Franken, eine vernünftige Jacke liegt bei 250 Franken. Das sind die Basics. Ansonsten würde ich niederschwellig starten. Eine teure Ausstattung macht noch keinen guten Wanderer. Gute Freunde von mir tragen Jacken, die wirklich schäbig aussehen, aber noch gut sind. Und sie tragen sie mit Stolz.

Zur Person

Thomas Widmer (57), wohnhaft im Zollikerberg, hat sich zunächst den Islamwissenschaften zugewandt, ehe er sich dem Journalismus widmete. Er war als Redaktor lange beim Tagesanzeiger für Hintergrund und Analyse zuständig und arbeitete in den unterschiedlichsten Ressorts. Obwohl er als Kind nur widerwillig mit den Eltern in den Bergen wandern ging, entdeckte er dies neu für sich. Seit 2017 ist Thomas Widmer bei der Schweizer Familie als Reporter und Kolumnist tätig. An den Wochenenden geht es – bei jedem Wetter – zum Wandern. Was er dort alles erlebt, erzählt er unter anderem in seinem Blog widmerwandertweiter.blogspot.com

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