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Sie kriegt es auf die Kette

Von Melanie Marday-Wettstein ‒ 24. Januar 2020

Die Zollikerin Christina Marugg hat die uralte Tradition des Webens neu entdeckt.

Die meisten ersten selbstgefertigten Webereien entstehen im Kinder­garten, sind aus bunten Papierstreifen und ernten daheim anerkennende «Ohs» und «Ahs». Dabei ist die Weberei alles andere als eine Kinderbeschäftigung. Sie ist eines der ältesten Handwerke der Welt. «In der Nähe von Wetzikon und auch bei Bauarbeiten beim Zürcher Opernhaus wurde Gewebe aus der Zeit um 3700 vor Christus gefunden», weiss Christina Marugg. Sie beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema und auch mit der Geschichte der Weberei. So standen um 1800 in den meisten Zolliker Stuben Webstühle und auch Spinnräder. Hier wurden für die Tuchmacher aus der Stadt Baumwollstoffe gewebt. «Der Weberlohn war auf dem Land sehr willkommen», erklärt die 57-Jährige. Die Händler brachten die fertigen Ketten in die Dörfer und holten die gewebten Stoffe wieder ab. Um 1830 setzte der Boom des Seidenwebens ein. 1870 stand fast in jedem Haushalt in der Gemeinde Zollikon ein ­Seidenwebstuhl. Als mit der Industrialisierung die grossen Web­maschinen aufkamen, war die Heimarbeit am Ende. Dafür florierten die industriellen Seidenwebereien. «Noch 1920 war die Seidenweberei Schwarzenbach in Thalwil das grösste Textilunternehmen der Welt», führt die Zollikerin weiter aus.

Faszination der geraden Linien

Doch Christina Marugg interessiert sich nicht nur für die Geschichte des Webens. Sie webt selbst leidenschaftlich gern. «Und das ist mir wirklich nicht in die Wiege gelegt worden», lacht sie. Sie arbeitete als Primar- und Musikschullehrerin, wurde Mutter von drei Kindern, ist mittlerweile Grossmutter von zwei Enkelkindern und besuchte nach vielen Berufsjahren einen Malkurs. Besonders fasziniert war sie von den einfachen waagrechten und senkrechten Pinselstrichen. Welche Linie kreuzt wie? Davor? Dahinter? So entdeckte sie für sich die Basis des Webens. Sie begann einen Kurs in Winterthur. «Und ich wusste sofort: Das ist meine Passion.» Sie liebt es, am Webstuhl zu sitzen, die Füsse treten fast automatisch die Pedale, das Schiffchen wandert von Seite zu Seite, der Kamm schiebt die Fäden zusammen. «Das hat einen besonderen Rhythmus und ist für mich eine meditative ­Tätigkeit», erklärt sie. Spontan liess sie sich zur Gewebegestalterin ausbilden und besuchte während dreier Jahre wochenweise die Berufsschule in Santa Maria im Münstertal. «Diese Ausbildung war eine schöne und schön strenge Zeit», erinnert sie sich. Auf dem Stundenplan stand unter anderem die Textilkunde. Wie entsteht Baumwolle überhaupt? Wie wird Leinen aus Flachs gewonnen? «Bis vor 80 Jahren wurde in vielen Gärten im Berggebiet Flachs angebaut, um daraus Leinengarn zu gewinnen.» Jetzt erlebe dieser eine Renaissance. So biete ein bekanntes Möbelhaus aktuell Vorhänge aus im Emmental gewachsenem Leinen an.

Mehr als Dekorationsstücke

Wer sich als Hobby Sticken oder Stricken ausgesucht hat, ist fein raus. Der kann seine Utensilien sogar mitnehmen. Das geht bei Christina ­Marugg nur bedingt. Zwar hat sie einen mobilen Webstuhl auf ­Rädern, ihr Webstuhl daheim ist aber 1,50 Meter breit und schwer zu transportieren. Im Fach «Bindungslehre» an der Berufsschule hat die angehende Weberin gelernt, wie die einzelnen Webstuhlteile miteinander in Verbindung gebracht werden müssen, damit das gewünschte Muster gewebt werden kann. Dazu werden Pläne, sogenannte «Fertigungs­patronen», gezeichnet. Zum Glück gibt es inzwischen Computerprogramme, die das Zeichnen von solchen Patronen erleichtern. Mit der richtigen Planung lassen sich sogar 3-D-Effekte im Gewebe erzielen. Oder ein Schuhsack mit Kordelzug wird als Ganzes am Webstuhl gewebt und muss nicht noch zugenäht werden: Am Webstuhl sind schon alle Nähte zugewebt worden.

All das erzählte Christina Marugg vergangene Woche zahlreichen ­Seniorinnen und Senioren an ­einem Anlass der reformierten ­Kirche. «Es hat mich gefreut, dass ich dazu eingeladen wurde. Aber ­eigentlich webe ich lieber als zu reden», lacht sie.

Weben – zuhause und in Ateliers

Das macht sie sehr gerne bei sich zu Hause. Hier sind unter anderem verschiedene Schals, eine Babydecke und ein Sofaüberwurf entstanden. Jeweils am Mittwoch reist sie nach Turgi bei Baden ins Webatelier ­Vitrine, das sie mit acht anderen Weberinnen zusammen gegründet hat. «Der Austausch unter uns Weberinnen ist mir sehr wichtig», unterstreicht sie. An den Webstühlen im Atelier entstehen nicht nur Dekorationen – wie ein Tischläufer – sondern auch nützliche Accessoires wie Stoffsäcke, die Plastiksäckchen ersetzen können, praktische Buchumschläge, Handtücher, «Chuchiblätze». Diese kleineren Produkte sind erschwinglich und lassen sich gut verkaufen. Einige Webstühle sind für Kursteilnehmerinnen reserviert. Daneben webt Christina Marugg über verlängerte Wochenenden auch in ihrem eigenen Webatelier im Bergdorf Rueras im Bündner Oberland. Hier bietet sie Wochenendkurse und jährlich einen einwöchigen Kurs an. (www.tisseria-rueras.ch)

Weben – das hat für Christina ­Marugg auch viel mit der Beziehung zur Umwelt zu tun. «Es ist mittlerweile Garn aus Cellulose entwickelt worden, das wesentlich umweltschonender ist als die meisten pflanzlichen Fasern, das Lyocell. Im Unterschied zur verwandten Viskose können aber bei der Produktion von Lyocell die verwendeten Chemikalien fast vollständig wiederverwertet werden.» Cellu­lose wird unter anderem aus Holz gewonnen.

Doch nochmals zurück zur Geschichte des Webens. Sie ist auch der Ursprung für mehrere Redewendungen, die heute noch aktuell sind. Wer sich «verzettelt», machte ursprünglich Fehler beim Herstellen der Kette für den Webstuhl, die auch «Zettel» genannt wird.

So erklärt sich auch der Ausspruch «etwas auf die Kette kriegen». Wer «gut im Schuss» war, machte keine Fehler beim Schiessen des Weberschiffleins, also beim Weben. Und wer eine Fahrt ins Blaue macht, fährt in die blau blühenden Flachsfelder. Sogar in der Literatur findet sich das Handwerk. Thomas Mann befand: «Die Gewohnheit ist ein Seil. Wir weben jeden Tag einen Faden und schliesslich können wir es nicht mehr zerreissen.»

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