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Die Grossmutter, die Geschichte schrieb

Von Melanie Marday-Wettstein ‒ 6. März 2020

Die Zollikerin Christina Caprez macht sich Jahrzehnte später auf die Spurensuche ihrer Grossmutter Greti Caprez­-Roffler, der ersten vollamtlichen Gemeindepfarrerin der Schweiz.

Greti Caprez-Roffler 1966 als Pfarrerin in Nufenen GR – endlich wieder im Gemeindepfarramt, über 30 Jahre nach ihrer Wahl in Furna.
Greti Caprez-Roffler 1966 als Pfarrerin in Nufenen GR – endlich wieder im Gemeindepfarramt, über 30 Jahre nach ihrer Wahl in Furna.

Am 13. September 1931 wagt das Bergdorf Furna im Prättigau einen Schritt, den zuvor noch keine Gemeinde der Schweiz getan hat: Es wählt eine Frau zur Pfarrerin – gegen die herrschenden Gesetze. Greti Caprez­Roffler ist damals 25-jährig, frisch gebackene Theologin und Mutter. Sie zieht mit ihrem Baby nach Furna, ihr Mann bleibt als Ingenieur in Pontresina. Die kantonalen Behörden konfiszieren das Kirchgemeindevermögen, doch die Pfarrerin arbeitet weiter, für «Gottes Lohn». Erst 1963 wird Greti Caprez-­Roffler ordiniert – zusammen mit elf weiteren Theologinnen im Grossmünster in Zürich. Ihre Enkelin, die Zolliker Soziologin und Journalistin Christina Caprez, erzählt jetzt ihre Geschichte – in einem Buch, einem Film und einer Hörausstellung, deren Vernissage am Sonntag stattfindet.

Auf ihrer Spurensuche stösst die Zolliker Soziologin und Journalistin Christina Caprez auf die aussergewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer Frau, die im Dorf Skihosen für Mädchen einführte und ihren Söhnen das Stricken beibrachte. Die ihren Mann zum Studium der Theologie inspirierte und mit ihm das Pfarramt im Jobsharing ausübte, lange bevor der Begriff existierte. Die für sich in Anspruch nahm, was damals für viele undenkbar war: ihrer Berufung nachzugehen und Mutter zu sein, eine glückliche Liebe und eine erfüllte Sexualität zu leben. Eine Frau, deren Mut einen hohen Preis hatte – nicht nur für sie.

Im Interview erzählt Christina ­Caprez, wie es sich angefühlt hat, sich durch die persönlichen Dokumente ihrer Grossmutter zu wühlen, wie viel Greti Caprez in ihr selber steckt und warum sie trotz Pionierleistung ihre Grossmutter nicht glorifizieren wollte.

Frau Caprez, was hat Sie dazu bewogen, sich nach über 80 Jahren, nachdem Ihre Grossmutter Greti Caprez-­Roffler zur ersten vollamtlichen Pfarrerin der Schweiz gewählt wurde, auf die Spurensuche nach ihr zu machen?

Mich hat ihr Kampf, auf der Kanzel stehen zu dürfen, interessiert. Ich wusste, dass ich eine Pionierin in der Familie habe, kannte aber die Geschichte nicht näher. Im Lauf der Recherche habe ich gemerkt, dass sie auch in anderen Bereichen Vorreiterin war. In ihrem Schlussexamen in Theologie hat sie die Monogamie in Frage gestellt und gefordert, die Väter sollten mehr Zeit in der Familie verbringen – Ideen, die heute hochaktuell sind.

Ist das auch der Grund, weshalb Sie sich nicht darauf beschränken, die Pionierleistungen Ihrer Grossmutter zu würdigen, sondern sie in den heutigen Kontext stellen und ihr Tun reflektieren und hinterfragen?

Ich wollte meine Grossmutter nicht glorifizieren. Ich wollte sie als Mensch mit Ecken und Kanten ­zeigen. Darum habe ich auch die Stimmen vieler Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einfliessen lassen. Ausserdem wird so deutlich, dass wir heute in vielem noch nicht viel weiter sind als damals – Stichwort ­familienexterne Kinderbetreuung oder Vaterschaftsurlaub. Ausserdem gibt es heute zwar viele Pfarrerinnen, aber manche Gemeinden wünschen sich nach dem Wegzug einer Frau auch heute noch «endlich wieder einen rechten Pfarrer», sprich einen Mann.

Wie war es für Sie, sich durch Briefe und Tagebücher der eigenen Grossmutter zu wühlen?

Das war sehr spannend und oft überraschend. Sie hat beispielsweise sehr offen über Sexualität geschrieben und den Müttern in ihrer Gemeinde in den 1930er Jahren von Verhütungsmethoden erzählt. Gleichzeitig war es erschütternd zu sehen, wie sie über Jahrzehnte an jedem Ort wieder neu kämpfen musste, um predigen zu dürfen. Von 1947 bis 1966 lebte sie in Kilchberg, mein Grossvater war der gewählte Pfarrer, und sie durfte nicht auf der Kanzel stehen – obschon sie schon 1931 in Furna allein verantwortliche Gemeindepfarrerin gewesen war.

Ihre Grossmutter hat Geschichte geschrieben. Erfüllt Sie das mit Stolz?

In gewisser Hinsicht ja. Dass sie so radikale Ansichten hatte und gegen grosse Widerstände ankämpfte, ist schon sehr bemerkenswert. Allerdings zeige ich in meinem Buch und in der Ausstellung auch die Schattenseiten auf: Sie hatte eine dominante Art, unter der ihre Kinder teilweise stark litten. Klar: Frauen mussten damals wohl sehr willensstark sein, um sich im patriarchalen Zeitgeist durchzusetzen.

Als Ihre Grossmutter 1994 starb, waren Sie 17 Jahre alt. Welche Erinnerung haben Sie an sie?

Ich sehe eine strenge alte Frau vor mir, mit einem straff nach hinten gekämmten Haarknoten. Wenn meine Schwester und ich bei ihr waren, mussten wir den Teller leer essen – das kannten wir von zu Hause nicht. Sie hat mich schon damals beeindruckt – leider habe ich aber die Chance verpasst, sie zu ihrer Geschichte zu befragen.

Wenn Sie Ihre Grossmutter noch einmal sehen könnten, welche Fragen würden Sie ihr heute stellen?

Ich würde sie fragen, warum sie mit 50 so konservativ geworden ist. Während sie in den 1930er Jahren radikale Ideen hatte, forderte sie zwanzig Jahre später in einem Artikel die Töchtergeneration auf, sich zwischen Familie und Beruf zu entscheiden. Vermutlich hatten die vielen Kämpfe sie müde gemacht, vielleicht war es auch der Zeitgeist der 1950er-Jahre.

Auch Sie selber setzen sich stark mit den Themenbereichen Familie, Migration, Geschlecht und Sexualität auseinander, haben Geschichte und Soziologie studiert. Wie viel Greti Caprez steckt ihn Ihnen?

Mehr, als ich anfangs dachte. Ich bin zwar nicht religiös, habe aber auch oft eine starke Meinung und engagiere mich feministisch. Ausserdem beschäftigen mich dieselben Fragen wie sie: Wie bringe ich berufliche Leidenschaft, Liebe und Familie zusammen? Meine Antwort auf die Frage ist vermutlich heute etwa so unkonventionell wie damals das Leben meiner Grossmutter als verheiratete Mutter und Pfarrerin im Bergdorf.

Wie haben Sie die Frage nach der Vereinbarkeit von Liebe, Familie und Berufung denn für sich selber beantwortet?

Ich habe immer nach einer Familienform gesucht, in der mein Kind verschiedene Bezugspersonen haben kann und ich Raum für berufliche Verwirklichung und Zeit für mich habe. Hier in Zollikon in der Hausgemeinschaft Althus habe ich das gefunden. Die beiden Väter meiner Tochter sind so präsent, wie es sich meine Grossmutter gewünscht hätte. Wir leben zu dritt eine Co-­Elternschaft – die beiden Väter sind ein Paar, wir kümmern uns zu gleichen Teilen um das Kind.

In Zollikon würdigen Sie eine ­weitere Pionierin: Anfang der 1930er-Jahre amtete die Theologin ­Marianne Kappeler in der reformierten Kirche Zollikon als Vikarin und übte alle Amtshandlungen aus. Was können Sie uns über Frau Kappeler erzählen?

Sie war ein Jahr älter als meine Grossmutter, stammte aus dem Thurgau und hatte in Basel Theologie studiert. Bei Greti Caprez-­Roffler war der Vater das Vorbild als Pfarrer, bei Marianne Kappeler war es der Onkel, der sie noch als Studentin für das Lernvikariat nach Zollikon holte. Weil er gesundheitliche Probleme hatte, konnte sie gleich nach dem Studium als Vikarin hier anfangen. In einem Bericht äusserte sie sich dankbar, dass ihr nie Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden waren: «Im Anfang war, besonders bei den älteren Leuten des Altersheimes ein wenig Misstrauen da und Unzufriedenheit darüber, dass man gerade ihnen etwas so Neumodisches zumute. Es gelang mir dann aber ziemlich bald, durch den persönlichen Kontakt den Leuten näher zu kommen.» Genauso ging es auch meiner Grossmutter zur selben Zeit in Furna im Prättigau.


Zur Person und zur Ausstellung

Christina Caprez (*1977), Soziologin und Journalistin aus Zollikon, hat sich die letzten fünf Jahre im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institut für Kulturforschung Graubünden mit der Biografie ihrer Grossmutter beschäftigt und darüber ein Buch («Die illegale Pfarrerin»), eine Aus-
stellung und einen Film geschaffen. In Zollikon präsentiert sie ihr Projekt und würdigt dabei auch eine Zolliker Pionierin: Anfang der 1930er Jahre amtete die Theologin Marianne Kappeler in der reformierten Kirche Zollikon als Vikarin und übte alle Amtshandlungen aus.

Die Hörausstellung von Christina Caprez gastiert vom 8. März bis zum 17. April in der reformierten Kirche Zollikon und ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Sie besteht aus sechs in der Kirche verteilten Guckkästen mit Hörgeschichten, Fotos und Alltagsobjekten aus dem Leben der Pfarrerin. Die Vernissage mit Vortrag über Greti Caprez-­Roffler und ihre Zolliker Kollegin Marianne Kappeler findet diesen Sonntag, 8. März, um 17 Uhr in der reformierten Kirche statt.

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