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Meisterin des Rollenwechsels

Von Tobias Chi ‒ 27. März 2020

Vielen dürfte Hildegard Keller als Kritikerin aus dem SRF-­Literaturclub bekannt sein. Das ist aber nur eine von vielen Facetten, welche die Kultur-Allrounderin anzubieten hat.

Hildegard Keller ist nicht nur Literaturkritikerin, sondern auch Professorin, Filmemacherin, Autorin, Schauspielerin und neuerdings auch Verlegerin. (Bild: Giovanni Spitale)
Hildegard Keller ist nicht nur Literaturkritikerin, sondern auch Professorin, Filmemacherin, Autorin, Schauspielerin und neuerdings auch Verlegerin. (Bild: Giovanni Spitale)

Durchs Fenster vor ihrem Schreibtisch hat Hildegard Keller einen herrlichen Blick auf Zollikon: oben der Wald, mittig der Kirchturm, unten der See. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in einer grosszügigen Mansardenwohnung an der Zollikerstrasse. Wie sie erst nach ihrem Einzug erfuhr, diente genau diese Wohnung Max Frisch als Arbeitsstätte. Der Zürcher Schriftsteller, der damals noch am Anfang seiner Karriere stand, wohnte von 1942 bis in die frühen 1950er-Jahre mit seiner Familie im unteren Stock des Hauses. Die Mansarde hatte er dazu gemietet, um zu schreiben. Wie Hildegard Keller von einer Tochter Max Frischs weiss, stand sein Schreibtisch am selben Fenster. «Als Max Frisch hier seinen Roman ‹Stiller› schrieb, mit dem ihm der Durchbruch als Autor gelingen sollte, hatte er immer Zollikon vor Augen», erzählt die 59-Jährige.

Was Hildegard Keller ausserdem mit Max Frisch verbindet, ist die Liebe zur Literatur. Seit 2012 ist die Germanistin Teil der Kritikerrunde im Literaturclub auf SRF 1. Elf Jahre lang war sie Jurymitglied beim österreichischen Ingeborg-Bachmann-Preis, einem der renommiertesten Literaturwettbewerbe im deutschsprachigen Raum. Ihr Name ist in der Literaturszene also fest verankert. Dass sie daneben noch zahlreiche weitere Rollen spielt, ist in der Öffentlichkeit weniger bekannt.

Der grosse Aufbruch

Aber schön der Reihe nach. Auf­gewachsen ist Hildegard Keller als eines von fünf Kindern in Wil SG. Ihre Familie lebte in einfachen Verhältnissen, Bücher spielten zu Hause kaum eine Rolle. Um ihrer künstlerischen Ader Ausdruck zu verleihen, griff die kleine Hildegard zu ihren Farbstiften. «Zeichnen war damals mein Refugium», erzählt sie. Jeweils zu Weihnachten bekam sie eine Schachtel Farbstifte geschenkt, mit der sie das ganze Jahr auskommen musste.

Die Kantonsschule besuchte sie in Wattwil im Toggenburg. Für Hildegard Keller war das die Zeit des grossen Aufbruchs. Früh verliess sie ihr Elternhaus, um in ein Bauernhaus umzusiedeln. «Im Garten pflanzte ich allerlei interessante Sachen an», erinnert sich die Germanistin schmunzelnd. «Ich gehörte zu den Pionieren in diesem Pflanzensektor. Jedenfalls war es eine sehr lustige Zeit!» Im Gymnasium kam sie zum ersten Mal mit dem Theater in Kontakt. Sie machte ihre Sache offenbar so gut, dass ihr von verschiedener Seite geraten wurde, eine Schauspielschule zu besuchen. Sie selbst wäre aber lieber an die Kunstgewerbeschule gegangen. «Visuelle Künste, Grafik, auch Werklehrerin hätte mich sehr interessiert», sagt Hildegard Keller. Sie weist auf einige kunstvoll gestaltete Puppen und Marionetten neben ihrem Schreibtisch, die sie in jenen Jahren angefertigt hat.

Viele Schienen auf einmal

Trotz ihrem starken Hang zum Künstlerischen verschlug es Hildegard Keller an die Universität. Sie studierte in Zürich und Basel Germanistik, Hispanistik und Soziologie. Als Werkstudentin stand sie zugleich immer mit einem Bein in der Arbeitswelt. Nach ihrem Abschluss unterrichtete sie Deutsch an verschiedenen Zürcher Gymnasien. Parallel dazu erlangte sie an der Uni ihre Habilitation. «Bei mir liefen immer mehrere Schienen parallel», sagt Hildegard Keller. Nach sieben Jahren als Professorin in Zürich folgte sie einem Ruf in die USA, genauer an die Indiana University Bloomington im mittleren Westen. Dort, in einem zwischen «Rust belt» und «Bible belt» gelegenen Städtchen, lehrte sie zehn Jahre lang deutsche Literatur.

Was sich im Lebenslauf wie eine klassische akademische Laufbahn liest, unterschlägt die vielen performativen und künstlerischen Projekte, denen Hildegard Keller während dieser ganzen Zeit nachging. Beispielsweise führte sie an den Kantonsschulen Theateraufführungen auf, deren Drehbücher sie zusammen mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitete. In den USA kam sie mit audiovisuellen Medien in Kontakt und drehte prompt einen Dokumentarfilm, der 2015 Filmfestivals und Kinos erreichte. Daneben entwickelte sie eine Hörspiel-Reihe, in denen sie fiktive Begegnungen zwischen historischen Figuren arrangiert, die zu unterschiedlichen Zeiten gelebt haben. Diese Audio-Erzeugnisse, in denen sie auch als Sprecherin mitwirkte, sind unter dem Titel «Trilogie des Zeitlosen» erschienen. Dazu arbeitet Hildegard Keller immer wieder bei Kunstausstellungen und Vernissagen mit, etwa im Museum Rietberg, im Strauhof oder im Zürcher Stadthaus. Die Kultur-Allrounderin lebt ihre Passion, Geschichte mit frischem Blick zu zeigen, jetzt auch in Form von Spaziergängen durch Zürich aus. Auf diese Weise kann man mit ihr und Christof Burkard Medizin-, Literatur- und Kriminalgeschichte entdecken. «Literatur, Theater, Hörspiel, Film, Kunst, aber auch Wissenschaft, Spiritualität, Wissenschaft, Reflexion: Für mich hängen diese Ausdrucksformen des menschlichen Geistes alle zusammen und befruchten einander», sagt Hildegard Keller.

Noch eine Schiene

Auch bei Anlässen rund ums letztjährige Gottfried-Keller-Jahr wirkte sie mit. In Vorbereitung darauf hat sich Hildegard Keller nochmals ­intensiv mit dem grossen Zürcher Dichter auseinandergesetzt, zu dem übrigens, wie der gemeinsame Nachname vermuten lassen könnte, keine Verwandtschaft besteht. Die nachhaltigste Frucht ihrer neuerlichen Beschäftigung mit Gottfried Keller ist das Buch «Lydias Fest», das sie als erstes Werk in ihrer «Edition Maulhelden» herausbrachte. Denn ja: Hildegard Keller ist auch Schriftstellerin. Der zauberhaft leichtfüssige Kurzroman erzählt von einem denkwürdigen Tag im Leben von Alfred Eschers Tochter Lydia Escher-Welti, die in ihrer Villa Belvoir eine Geburtstagsfeier für Gottfried Keller vorbereitet.

Vor den Augen der Leserschaft entsteht die Lebenswelt der Zürcher Bohème des 19. Jahrhunderts, in der auch die Kulinarik eine wichtige Rolle spielt. Man erfährt zum Beispiel, weshalb damals mehr Fisch als Fleisch gegessen wurde. Oder wie Teigwaren und Fertig­suppen den Speiseplan nicht nur der armen Bevölkerungsschicht ­eroberten. Oder wie zwei Geniestreiche die Schweizer Schokolade weltberühmt machten.

Der Name «Maulhelden» ist also Programm. Hildegard Keller und Christof Burkard gründeten den ­Verlag 2019. Soeben ist das zweite Buch erschienen: «Frisch auf den Tisch» – ein Schelm, wer beim Titel an Max Frisch denkt – verspricht «Weltliteratur in Leckerbissen». Neben literarisch-anekdotischen Häppchen zu Herman Melville, Hannah Arendt oder eben Max Frisch wird jeweils ein passender Rezeptvorschlag serviert, für die Christof ­Burkard, Jurist von Beruf und Koch aus Leidenschaft, verantwortlich zeichnet. Abgerundet werden die formschönen Büchlein mit Zeichnungen und Collagen von – wen wundert’s – Hildegard Keller.

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