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Nie auf Nummer sicher

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 13. Mai 2021

Das Leben von Thomas ­Reh­steiner teilt sich in unterschiedlichste Stationen. Das Staunen gehörte bei allen dazu.

Thomas Rehsteiner ist nach vielen Stationen wieder in Zumikon angekommen. (Bild: bms)
Thomas Rehsteiner ist nach vielen Stationen wieder in Zumikon angekommen. (Bild: bms)

Er hat Marketing gemacht und für eine Versicherung gearbeitet. Er ist putzen gegangen, hat sich um Aids-Kranke gekümmert und wollte nach dem Mord an Gianni Versace unbedingt seine eigenen Hemden (mit verdeckter Knopfleiste) nähen: Doch wer glaubt, im Leben von Thomas Rehsteiner gebe es keinen roten Faden, der irrt. Bei dem Zumiker dreht und drehte sich immer alles um den Menschen – und vielleicht auch um seine eigene Neugier. «Ich durfte mich mein Leben lang mit dem beschäftigen, was mich interessiert», gibt der 60-Jährige zu. Dafür nahm er auch einiges in Kauf, zum Beispiel als «Putzmann» zu arbeiten. «Zu meinen Aufgaben gehörte auch das Bügeln, da musste ich mir schon mal anhören, dass auch eine Bluse keine Falten am Ärmel braucht», erinnert er sich schmunzelnd. Wenn der Zumiker aus seinem Leben erzählt, klingt es so, als habe es der Zufall sehr oft, sehr gut mit ihm gemeint. Aber vielleicht ist das ja eben kein Zufall.

Messe oder Kündigung

Nach der Schule begann er eine Lehre bei einer grossen Versicherung in Zürich. Schnell entdeckte er das Marketing für sich. Er wechselte zu einem Unternehmen in Egg. Dort erhielt er die erste Kündigung in seinem beruflichen Leben. In der Freizeit ging Thomas Reh­steiner regelmässig ins Theater. In Basel stiess er dabei auf einen kleinen Aushang: «Suchen Regisseur». ­Einer Schulklasse war die Regisseurin davongelaufen. Rehsteiner übernahm den Job. Als ein grosses Probenwochenende im Jura anstand, sollte er überraschend mit seinem Chef auf eine Messe fahren. «Er stellte mich vor die Wahl: ­Messe oder Kündigung – und so musste ich gehen.» Jahre später traf er den Mann am Frankfurter Flughafen wieder. «Er erzählte mir, dass er seinerzeit für seinen Beruf auch den geliebten Fussball aufgeben musste.» Thomas Rehsteiner staunte – wie so oft in seinem Leben. Mehr aber ist die Erinnerung auch nicht wert. Er bewarb sich beim Zürcher Bankverein (heute UBS). «Erst auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch fiel mir auf, dass ich gar keine Krawatte trug. Ich war schon in der Forchbahn. Für die Umkehr war es zu spät.» Er bekam die Marketingstelle, und zwar weil er keinen Schlips trug. «Jahre später verriet mir mein damaliger Chef, dass er eben jemand gesucht hatte, der nicht wie ein Banker denkt.»

Und das kann man Thomas Rehsteiner wahrlich nicht nachsagen. Er ging nie auf Nummer sicher. Er stürzte sich in die Selbstständigkeit. «Obwohl ich keinerlei Netzwerk hatte. Aber davon sprach man damals noch nicht.» Er versuchte sich als Musikveranstalter und wollte sich künstlerisch ausbilden lassen. In der Schweiz fand er keinen Weg, wohl aber in London. Er besuchte eine Kunstakademie. «Mit meinem Studentenausweis konnte ich in jede Vorlesung – ohne ­Matura.» Er entdeckte die Physik für sich und schrieb eine Arbeit über «Die Genialität in der Wissenschaft und in der Kunst». Kurz vor dem Master schmiss er die Ausbildung hin: «In einem postpubertären Anfall hatte ich mich mit dem Leiter der Akademie angelegt. Das würde ich heute wohl anders machen», räumt er ein. Aber so ganz sicher klingt er dabei nicht.

Kein Vorher oder Nachher

Zurück in der Schweiz engagierte er sich für Non-Profit-Unternehmen, für eine Multiple Sklerose-Gesellschaft und für das Kinderdorf ­Pestalozzi. «In mageren Zeiten gab es dann eben die Denner-Bratwurst aus der Aktion», kommentiert er knapp. So kam er auch zum ­Zürcher Lighthouse, wo unheilbar kranke Menschen zur Ruhe kommen können. Es war die hohe Zeit von Aids. Thomas Rehsteiner landete in der Pflege. Und es kam der Moment, dass ein Mensch in seinen Armen starb. «Für mich war das ein bedeutender Moment, weil er eben nicht bedeutend war. Es gab kein Vorher und Nachher. Ich konnte nicht den einen Augenblick bestimmen, in dem der Tod eingetreten ist. Es war absolut fliessend.» ­Genau so sieht er das Leben und lebt sein Leben. Es scheint keine Abgrenzung zwischen Beruf, ­Hobby, Leidenschaft und Neugier zu geben. Die Neugier hat ihn zu seinem jetzigen Beruf geführt. Als psychologischer Berater begleitet er Menschen mit den unterschiedlichsten Anliegen wie Existenz­sorgen, Suizidgedanken, Süchte. «Ich bin kein Coach», unterstreicht er. Er sieht sich eher als Wegbegleiter für eine gewisse Etappe. Und er glaubt fest an die Potenziale in den Menschen. Dabei sei jeder für sich selbst der Experte. Man müsse es sich eingestehen: die eigene Scham, die eigene Arroganz, die eigene Verletzlichkeit. Und je mehr Facetten man austausche, um so enger werde eine Beziehung. «Damit meine ich keine Beziehungskiste», lacht er wieder. Und so sieht er gerade jetzt – in der besonderen Zeit – auch einen Vorteil. «Die Menschen werden auf sich zurückgeworfen und können mehr bei sich sein. Ob in einer kleinen Wohnung oder in einem grossen Haus. Der Dichtestress ist derselbe.»

Fraglich, ob Thomas Rehsteiner mit seiner l’heure bleue nun in der letzten beruflichen Station angekommen ist. Er scheint sich immer wieder neu zu erfinden und sich trotzdem treu bleiben zu können.

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