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«An der Bewegung eines Menschen kann man sehen, wie er sich fühlt»

Von Antje Brechlin ‒ 3. Juni 2021

Die psychomotorische Therapie beschäftigt sich mit der Wechselbeziehung von Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Bewegen und Verhalten. Im Zentrum steht der bewegte Körper. Janine Haerle ist eine Pionierin dieser Therapie. 1978 begann sie diese an der Zolliker Primarschule aufzubauen. Bis März 2021 war sie hier mit kurzen Unterbrechungen als Therapeutin tätig. Nach Janine Haerle sollte die Therapie vor allem bereichernd für ein Kind sein.

Janine Haerle: Primarlehrerin, Heilpädagogin, Psychomotorik-Therapeutin und Sachbuchautorin. Das neueste Sachbuch «Niki entdeckt die Basisschrift» ist Lehrmittel an der Zolliker Primarschule. (Bilder: ab)
Janine Haerle: Primarlehrerin, Heilpädagogin, Psychomotorik-Therapeutin und Sachbuchautorin. Das neueste Sachbuch «Niki entdeckt die Basisschrift» ist Lehrmittel an der Zolliker Primarschule. (Bilder: ab)

Als Aussenstehende hat man den Eindruck, dass jedes zweite oder dritte Kind eine psychomotorische Therapie benötigt. Sind das alles kranke Kinder?

Die Kinder, die in die Therapie kommen, sind alle völlig ok. Psychomotorik ist das Zusammenspiel zwischen den Bewegungen und dem eigenen Empfinden. Da gibt es bei einigen Kindern eine Disharmonie. An den Bewegungen eines Menschen kann man oftmals erkennen, wie sein Befinden ist. Man sollte die Psychomotorik als Chance für die Kinder sehen, denn sie sind in ihrer Entwicklung nicht immer gleich weit. Manche haben grob, fein oder graphomotorische Schwierigkeiten. Einige leiden darunter, wenn Dinge nicht so klappen, wie sie diese gerne hätten. Kinder, die nicht gerne schreiben, weil der Arm beim Schreiben schmerzt, Kinder, die traurig sind, weil sie im Turnen beim Klettern oder Schnelllauf nicht mithalten können oder einen Purzelbaum nicht hinbekommen. Denen sieht man ziemlich schnell an, wenn sie unglücklich sind. Manchmal werden Lehrpersonen darauf aufmerksam und reden mit den Eltern. Im besten Fall ist den Eltern auch schon aufgefallen, dass die Balance der Kinder nicht ganz stimmt. Dann könnte eine psychomotorische Abklärung helfen. Das Gespräch zwischen Eltern, Lehrkräften und der Therapeutin ist dabei das Wichtigste. Meist können schon im ersten Gespräch Vorurteile bereinigt werden.

Das Kind kommt also zu einer Abklärung. Nach welchen Kriterien wird eine Therapie ausgewählt?

Es werden verschiedene Tests durchgeführt. Wie gesagt ist nicht jedes Kind im gleichen Alter auf demselben Entwicklungsstand. Aber es gibt Normen und eben Abweichungen nach oben oder unten. Die Abklärung soll Auskunft geben, wie die Wahrnehmung, die Motorik, die sozial-emotionale Entwicklung und die Kognition des Kindes zusammenspielen. Im Austausch mit den Eltern und Lehrpersonen werden die Stärken und Schwierig­keiten des Kindes besprochen. Die Therapeutin muss während einer Abklärung und auch später während der Therapie gut beobachten und ein feines Gespür für die Befindlichkeiten des Kindes und dessen Bewegung haben. Manchmal reicht ein Beratungsgespräch mit den Eltern, um dem Kind zu helfen; manchmal ist eine Therapie notwendig. Wichtig ist, dass man das gemeinsam mit den Eltern herausfindet.

Was ist das Ziel einer psychomotorischen Therapie?

Ziel ist immer, dass ein Kind lernt, mit seinen motorischen Schwächen umzugehen, diese zu akzeptieren und sich gleichzeitig etwas zuzutrauen. Das Kind soll lernen, seinem Körper und sich selbst zu vertrauen, auch wenn es etwas nicht gut kann. Nicht jeder ist ein super Athlet, aber dafür vielleicht ein Ass im Lesen oder Rechnen. Das unsportliche Kind sollte sich auch Schwierigeres zutrauen, wie zum Beispiel eine Kletterstange zu meistern. Sprich, das Kind lernt Selbstbewusstsein aufzubauen. Wir Therapeuten arbeiten an der Zolliker Schule auch integrativ in den Klassen. Sind im Unterricht dabei und arbeiten mit einzelnen Kindern oder der ganzen Klasse und können helfend zur Seite stehen, wenn es Probleme beim Schreiben oder im Sport gibt.

Um Kindern die Lust am Schreiben zurückzugeben, haben Sie vor über 20 Jahren begonnen, das Alphabet nach Buchstabengruppen zu lehren und so innerhalb von viereinhalb Monaten alle Buchstaben zu vermitteln. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Einige Lehrpersonen sind auf mich zugekommen mit der Information, dass viele Kinder keine Freude mehr am Schreiben hätten, weil das Lernen des Alphabets fast ein Jahr dauerte. Buchstabe für Buchstabe. Das war einfach langweilig, die Kinder verloren die Freude am Schreiben. So kam ich auf die Idee, die Buchstaben in einzelne Formgruppen einzuteilen. Das wurde später als Psychomotorik-Integrativ-Projekt an der Schule eingeführt. Es ist für die schnellen und langsamen Kinder spannend. Auf diese Weise haben wir es geschafft, allen Kindern gerecht zu werden, was aufgrund des unterschied­lichen Entwicklungsstandes der Kinder nicht immer einfach ist.

Sie sprechen den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder an. Die Bandbreite in einer Klasse ist gross. Kinder, die der «Norm» entsprechen, haben keine Probleme, die anderen aber schon.

Die Lehrpersonen müssen auch diesen Kindern gerecht werden und wollen diese nicht vernachlässigen. Das ist ein schwieriger Spagat. Auch deshalb ist es für viele Lehrer entlastend, wenn die Psychomotorik-Therapeutin integrativ mit einzelnen Kindern oder mit der ganzen Klasse arbeitet.

Haben Sie Tipps für Eltern, um eine Therapie zu vermeiden?

Den Drang nach Bewegung hat jedes Kind. Manche Kinder machen aber schon früh die Erfahrung, dass sie nicht so gut balancieren oder klettern können wie andere. Eltern könnten zum Beispiel zu Hause aus Matratzen Bewegungslandschaften schaffen, damit sich die Kinder austoben oder Bewegungsspiele ausprobieren können. Das Wichtigste für die Kinder ist die Bewegung auf dem Spielplatz, im Wald, im Schwimmbad. Dort haben sie Gelegenheit, den Zugang zum eigenen Körper zu finden.

Mit Janine Haerle sprach Antje Brechlin


Janine Haerle ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Adoptivkinder. Sie lebt im Zollikerberg. Auch nach ihrer Pensionierung ­vermittelt sie ihr Wissen über die psychomotorische Förderung als Sachbuchautorin einem breiten Publikum: Eltern, Krippen- und Spielgruppenleiterinnen und -leitern, Kindergarten- und Unterstufenlehrpersonen. Seit 2018 wird an den Schulen die Basisschrift gelehrt. ­Gemeinsam mit ihren Co-Autorinnen Angelika Staub und Larissa Vogt hat sie vor kurzem «Niki entdeckt die Basisschrift» herausgebracht. Das Buch ist ein ganzheitliches Schreibprojekt zum Erlernen der ­Basisschrift, mit vielen Übungen, die Lust aufs Schreiben machen sollen. Das Buch wird an der Zolliker Primarschule in den ersten Klassen als Lehrmittel verwendet. Frühere Sachbücher sind «Verbundene Schrift in 7 Wochen» sowie «Fingerspitzengefühle», beide zusammen mit ihrer Kollegin Ursula Scheuzger publiziert.

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