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Der dritte Weg im Wohnungsbau

Von Franca Siegfried ‒ 18. November 2021

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Sie ist nicht neu, sondern 75 Jahre alt. Damals haben Gewerbler die Neue Bau­genossenschaft Zollikon, NBZ gegründet. Heute gehören der Genossenschaft 17 Liegenschaften. Gedanken über das Erfolgsmodell des genossenschaftlichen Wohnens.

Beliebte Genossenschaftswohnungen an der Neuackerstrasse 53 im Zollikerberg. (Bild: ab)

Wohnraum der Spekulation entziehen – ein Thema, das nicht aktueller sein könnte. Zollikon gehört zu den begehrtesten und teuersten Wohngebieten des Landes. Die Immobilienpreise klettern in Sphären, die nicht nur exklusives Wohneigentum erfasst, sondern Preise gängiger Mietwohnungen in die Höhe treibt. Für viele Wenig- bis Normalverdiener ist es unerschwinglich geworden, in Zollikon zu wohnen. Über das Szenario einer solchen Entwicklung haben nach dem Krieg im Jahr 1946 Gewerbetreibende nachgedacht. Ihre Gedanken waren nicht nur visionär, sondern basierten auf einer christlichen Wertvorstellung der Menschlichkeit. Wohnen als Grundbedürfnis des Menschen ist auch als Sozialziel in der Schweizer Bundesverfassung verankert. In Artikel 41 steht etwa, dass Wohnungssuchende für sich und ihre Familien Wohnungen zu tragbaren Bedingungen finden sollten.

Die Zolliker Gewerbetreibenden wussten damals anhand ihrer Lohnlisten, was ihre Angestellten für eine Wohnung bezahlen konnten. Sie waren daran interessiert, dass ihre Leute nebst guten Wohnbedingungen kurze Arbeitswege hatten: Wer ein intaktes Familienleben führt, ist motiviert zum Arbeiten und fühlt sich sozial eingebettet. Wichtig war den Gewerbetreibenden ausserdem, dass die Kinder ihrer Angestellten in der Gemeinde gute Schulen besuchen konnten. Schliesslich war es eine längerfristige Investition für einen möglichen Nachwuchs. Eine Genossenschaft zu gründen für gemeinnützigen Wohnungsbau – das Vorhaben entstand aus einem Mix von Menschlichkeit und unternehmerischem Denken. Das nötige Kapital stammte aus Anteilscheinen und Bauland im Baurecht, das ihnen die Gemeinde zur Verfügung stellte. Zudem sassen Gewerbler immer schon in politischen Gremien der Gemeinden.

Es ist kaum ein Zufall, dass heute ein ehemaliger Gartenbauunternehmer als Präsident an der Spitze der «Neuen Baugenossenschaft Zollikon» steht. Fünf gewählte Mitglieder amtieren im Vorstand und das Tagesgeschäft besorgt eine professionelle Verwaltung. Heute gehören den Genossenschaftern 17 Liegenschaften mit 181 Wohnungen, verteilt in den Quartieren Berg, Rebwies und Dorf. Um den historischen Werdegang haben sich die Genossenschafter kaum gekümmert: «Wir haben andere Probleme, zudem sind alle unsere Entwicklungen und Geschäfte protokolliert», erklärt der Präsident Jürg Widmer. Die Genossenschaft muss sich an Statuten und Reglement halten. Besonders wenn es um Kapital geht. Jürg Widmer: «Heute kann nur noch ein Anteilschein von 500 Franken pro Person gelöst werden. Wir haben genug Kapital.» Er lobt die Genossenschafter, sie hätten Vertrauen in die Organisation, darum mache ihm sein Amt auch Freude. Der frisch Pensionierte sorgt sich eher um die Verwaltung. Mietwohnungen zu betreuen, brauche heute eine «dicke Haut»: «Die Ansprüche sind bei allen gestiegen. Im Angebot muss eine Vierzimmerwohnung über zwei Bäder verfügen.» Damit soll sich das Familienleben besonders am Morgen entspannen, damit alle pünktlich zur Arbeit oder in die Schule kommen. Was sich auch abzeichnet mit der aktuellen Entwicklung: Neubauten kommen für günstigen Wohnraum mit der Kostenmiete an ihre Grenzen. Kostenmiete bedeutet, dass der verrechnete Mietzins den effektiven Aufwand mit Rückstellungen und Abschreibungen beinhaltet. «Wir vermieten noch alte Vierzimmerwohnungen für 800 Franken, die nicht mehr ganz den heutigen Ansprüchen genügen», sagt Präsident Widmer. Er betont jedoch, dass die älteren Häuser die Basis des Liegenschaften-Portfolios bilden. Baugenossenschaften bekommen mit der demografischen Entwicklung eine besondere Bedeutung. Ältere finden keine bezahlbaren Wohnungen mehr und landen ungewollt in Altersheimen. Die Wohnkonzepte vieler Heime entsprechen oft nicht mehr den Ansprüchen für ein selbstbestimmtes Leben. Es ist auch eine Tatsache, dass in den Wohnungen der nBZ viele Kinder aufwachsen – momentan sind es etwa 112. Oft melden sie sich selbst nach ihrer Aus- und Weiterbildung für eine Wohnung an. Die Nachfrage ist gross. Eine Gemeinde ohne junge Familien ist so elend wie ein verlassenes Tessiner Bergtal, in dem nur noch «Nonne» und «Nonni» leben.

Manche fragen sich, was mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Baugenossenschaften geschieht, die Karriere machen, gutes Geld verdienen und immer noch eine Wohnung besetzen, die für tiefere Einkommen gedacht ist. Jürg Widmer meint dazu: «Das kommt selten vor – mit mehr Einkommen wächst der Wunsch nach einer Wohnung im privaten Wohnungsmarkt, die von der Ausstattung her einen höheren Standard bietet.» Der Anteilschein, die 500 Franken, lässt sich beim Auszug kündigen.

Die Anteilscheine können auch vererbt werden. Was nicht automatisch bedeutet, dass sie die Wohnung der Verstorbenen «miterben». Leider bieten immer weniger Erben ihre Immobilien zu vernünftigen Preisen Baugenossenschaften an für neuen Wohnraum. Heute überwiegt der Wunsch nach dem grossen Geld und nicht der gemeinnützige Gedanke. An eine genossenschaftliche Wohnung zu kommen ist kein einfaches Unterfangen. Die Warteliste ist lang. Ausgerechnet das Mietrecht, das Ruhe und Ordnung in das Grundbedürfnis der Menschen bringen sollte, ist eine der Ursachen des Wartens. Gemäss Mietrecht darf ein Mieter innerhalb von 30 Tagen auf Ende des Monats kündigen, wenn er einen gleichwertigen Nachfolgemieter präsentiert. «Wer kann schon innerhalb von 30 Tagen seine Wohnung auflösen», fragt sich Jürg Widmer. So haben wartende Wohnungssuchende oft das Nachsehen, während der abtretende Mieter sich längst mit einem Nachfolger abgesprochen hat. Leerstand ist etwas, was Genossenschafterinnen und Genossenschafter nicht mögen; und so wird der «Handel» mit Zeitnot unter Umständen akzeptiert.

Erstaunlich ist, dass eine Gemeinde wie Zollikon mit rund 13’300 Einwohnerinnen und Einwohnern über fünf Baugenossenschaften und eine Gewerbegenossenschaft verfügt. Unter ihnen herrscht kein Wettbewerb, im Gegenteil, sie treffen sich am runden Tisch und planen zusammen neue Überbauungen. Ein aktuelles Beispiel ist etwa die Beugi-Initiative, ein Überbauungsprojekt, das sich im politischen Prozess befindet und daher noch nicht spruchreif ist. Der Artikel 41 der Bundesverfassung hält auch fest, dass sich Bund und Kanton in Ergänzung privater Initiative für eine gute Wohnraumversorgung einsetzen müssen.

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