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Wenn die Welt plötzlich stillsteht

Von Antje Brechlin ‒ 18. November 2021

Suizid, Unfall, plötzlicher Kindstod. Wie ist das, Menschen zu betreuen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben? Über seine Arbeit als Team­leiter der Notfallseelsorge im Kanton Zürich und als Leiter des Careteams der kantonalen Feuerwehr berichtete der Zolliker Pfarrer Simon Gebs.

Der Zolliker Pfarrer Simon Gebs ist auch Teamleiter der Notfallseelsorge im Kanton Zürich. (Bild: ab)

Gleich vorneweg: Im Publikum war es mucksmäuschenstill. Der Kirchgemeindesaal war voll – fast 80 Gäste wollten von den oft schmerzhaften Erfahrungen hören, die Simon Gebs als Notfallseelsorger erlebt. Gleich zu Beginn betonte er, er wolle Mut machen, kein Depressionsseminar halten. Aufzeigen, wie widerstandsfähig Menschen seien, wie das Leben auch nach Schicksalsschlägen meist wieder sinnvoll wird.

Pikettdienst rund um die Uhr

Seit 15 Jahren leistet er – wie 68 weitere Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger – Pikettdienst, das heisst, er rückt bei Anrufen der Einsatzleitzentrale von Schutz & Rettung Zürich aus. Zusätzlich steht er 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag als Teamleiter bei komplexeren Ereignissen zur Verfügung. Notfallseelsorger brauchen eine Menge Empathie, psychologisches Wissen und einen klaren Kopf. Nach meist tödlichen Ereignissen stehen sie nicht nur den zurückbleibenden Angehörigen, sondern auch Ersthelferinnen und Augenzeugen zur Seite. Schwer vorzustellen, dass man das freiwillig macht. Doch im Laufe des Vortrags wird klar, dass die Arbeit zwar emotional anspruchsvoll und aufreibend, aber gleichzeitig extrem bereichernd ist. Bereichernd, weil eine psychosoziale Frühintervention ein wichtiger Beitrag zur Prävention möglicher Traumafolgen ist.

Ausnahmesitutionen

Das Publikum erfährt, dass Menschen in psychischen Ausnahmesituationen auf Überlebensmodus schalten und entweder mit Flucht, Aggression oder Erstarrung reagieren können. Das alles sei evolu­tionsbiologisch nachvollziehbar und völlig normal, erklärt Simon Gebs. In diesem Zustand sei man oft nicht handlungsfähig und den eigenen Emotionen ausgeliefert. Es sei nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau schreiend die Strasse auf- und ablaufe, weil sie ihren noch nicht 40-jährigen Mann tot im Bett gefunden habe. Oder eine andere nach dem plötzlichen Herzstillstand ihres Mannes nach der Auszahlung der Pensionskasse frage oder das Frühstück vorbereite, während dieser im Nebenzimmer reanimiert werde.

Wie geht man damit um, wenn eine Mutter zusehen muss, wie die 14-jährige Tochter von einem LKW überrollt wird? Wichtig sei es, in diesen Situationen Empathie richtig zu verstehen. Man müsse als Notfallseelsorger nämlich nicht das gleiche fühlen wie die Betroffenen. Empathie sei vielmehr ein radikaler Fokus auf die betroffenen Menschen und auf ihre Not. Wichtig sei, sie dabei zu unterstützen, Schritt um Schritt wieder Kontrolle über eigenes Handeln zu gewinnen. Oft reiche bereits eine Intervention von drei bis fünf Stunden. Verständnis für die eigenen Reaktionen fördern, persönliche Ressourcen aktivieren, die nächsten Schritte planen, vertraute Menschen einbeziehen, Bewegung an der frischen Luft, um die Stresshormone abzubauen: Das Ziel der psychosozialen Nothilfe sei es, Menschen gestärkt aus der ­Krise zu führen. Der Mensch sei immer wieder erstaunlich resilient, psychisch widerstandsfähig und könne, so paradox dies klingen mag, selbst durch himmeltrauriges Leid auch persönlich wachsen. Nach emotional fordernden Einsätzen hat Simon Gebs ein Ritual. Er fahre nach Hause schreibe den Rapport, gehe duschen und ziehe sich komplett neu an. Wenn immer möglich, baue er eine Stunde Sport ein. Das sei psychohygienisch wichtig für ihn.

Geschichte der psychosozialen Nothilfe

Notfallpsychologie sei ein junges Gebiet, erfahren die Zuhörer, erst seit knapp 30 Jahren kümmere man sich in der westlichen Welt psychologisch um Menschen, die unvorbereitet einen schweren Verlust ­erlitten hätten. Nach dem Vietnamkrieg etwa sei Psychologen und Ärzten gehäuft aufgefallen, dass Soldaten oft wesensverändert heimgekehrt seien. Sie litten unter Lähmungserscheinungen, Schlaflosigkeit und wiederkehrenden Erinnerungen. Auch die Suizidrate stieg massiv. Heute nenne man es «posttraumatische Belastungsstörung». Unbehandelte Symptome die früher keinen klinischen Befund ergaben, führten häufig zu psychischen und sozialen Problemen. Dank der heute frühzeitigen psychosozialen Nothilfe könne das oftmals aufgefangen werden.

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