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Von Gäutschlingen, nassen Hintern und Buchdruckern

Von Ramona Bussien ‒ 8. Juli 2022

Noch ist alles ruhig in der Fröhlich Info AG. Es könnte ein Arbeitstag wie jeder sein. Verräterisch kreuzen sich Blicke, Mundwinkel zucken. Schritte beschleunigen sich. Doch stopp. Falsche Richtung. Zurück. Die Polygrafin mit dem Regenbogenhaar patrouilliert dann und wann durch die Firma: Sie hat es von langer Hand geplant: das «Gautschä» – die Taufe für Lehrabsolventen in der Druckerbranche.

«Hoffentlich verplappert sich keiner», meint sie. Die Uhr tickt. Die Kamera liegt bereit. Zur Mittagsstunde klingen Flüstern und Kichern um die Ecken. «Es ist beim Dorfbrunnen, glaube ich», sagt die junge Polygrafin Jemima leise. Lehrabsolventin Alina hat kürzlich ihre Lehrabschlussprüfung mit einem grossartigen Ergebnis absolviert. Wohl ahnt sie ihr Schicksal. Nicht unbedingt den Tag, noch weniger die Uhrzeit, doch diese Woche ist es soweit, dessen war sie sich ziemlich sicher, als sie morgens ihr Zuhause verliess.

Traditionelle Erfrischung

Punkt 16 Uhr. Mit einem Schlag ist es um die Ruhe geschehen. Mitarbeiter strömen aus den Büros. Wer nicht arbeitet, hat sich den späten Nachmittag freigehalten. Freunde, Bekannte und Familie eingeschlossen. «Packt an!», brüllt Gautsch­meisterin Bea. Mit Seil und Überzeugung schreitet sie auf Alina
zu. Spätestens jetzt ist allen klar, was passiert. «Ich wusste es!», ruft Alina aus und lacht, zappelt ein wenig, lässt sich aber ohne grössere Gegenwehr ­fesseln. Die Packer greifen zu und verfrachten ihr Opfer draussen in die Schubkarre. Los geht es: die Gustav-­Maurer-Strasse hoch, vorbei an der Dreifaltig­keitskirche, geradewegs zum Dorf­brunnen. Gautschmeisterin Bea kramt ihre Gautschrede hervor, die ­Zuschauer zücken Handys und Kameras.
Die Gautschmeisterin spricht von den «Jüngern der wohledlen Zunft», den «Jüngern Gutenbergs», von der Wassertaufe, dem «Kornutenstand», von Sitte und Brauch, Gesellen und Meistern. Währenddessen wird die Lehrabsolventin auf einen nassen Schwamm gesetzt, mit einem ­Eimer Wasser über den Kopf getauft und schliesslich in den Brunnen getaucht. Das alles unter Beifall und Applaus der Taufzeugen. Alina hat es geschafft. Sie ist offiziell zur Gesellin aufgestiegen.

«Packt an!», heisst es erneut. Die Eingeweihten greifen sich Jemima, die ihre Lehre vor rund drei Jahren abgeschlossen hat. Gerade filmte sie noch die amüsanten Szenen ihrer jüngeren Kollegin, jetzt ist sie selbst gefesselt und wird auf den nassen Schwamm gesetzt. Dasselbe Prozedere, denn gemäss dem Brauch ist es Buchdruckern und Polygrafen nur erlaubt, einen Lehrling aus­zubilden, wenn sie selbst gegautscht worden sind. Passiert das nicht, kann man in zukünftigen Betrieben «nachgegautscht» werden. Da ­Jemimas alte Firma den Brauch nicht ausübte, wird nachgeholt, was nachgeholt gehört. Zum Schluss ­erhalten die frisch gegautschten ­Polygrafinnen ihren Gautschbrief.

Zwischen Vorahnung und ­Überraschung

Alina wusste um das Brauchtum. Und Jemima? Auch sie ahnte etwas. «Aber ich dachte nicht, dass es wirklich passiert.» Beide freuen sich, das Gautschen am eigenen Leib erlebt zu haben. Längst nicht alle Betriebe halten daran fest. Aber gelacht ­haben letztlich alle, von der Gautsch­meisterin über die Gäutschlinge bis zu den Zuschauenden.

Ein Blick in die Vergangenheit

Gemäss dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm heisst «gautschen» oder «gäutschen» unter anderem «schaukeln», «wiegen», etwas «im Wasser schwenken». Schliesslich beschrieb das «Gautschen» einen Arbeitsprozess bei den Papiermachern – dann nämlich, wenn der Hersteller von Büttenpapier das Wasser aus den Papier- und Stoffbahnen pressen musste. Im Zusammenhang mit der Taufzeremonie der Drucker und Setzer taucht der Begriff erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Das «Gautschen» der Schwarzkünstler ist also alles andere als mittelalterlich. Auch der Buchdruck selbst geht nicht ins Mittelalter zurück: Dazumal oblagen Niederschrift und Vervielfältigung von Informationen den Mönchen in den Klöstern. Von Hand. In Europa führte Mitte des 15. Jahrhunderts (frühe Neuzeit) Johannes Gutenberg den Buchdruck ein. Ein revolutionärer Schritt. Auf einmal hatte das gewöhnliche Volk Zugriff auf Informationen – der Motor der Aufklärung setzte sich in Bewegung.

Vom Lehrling zum zünftigen Gesellen

Das «Gautschä» ist ein Taufakt für ausgelernte Drucker und Setzer, die ihre Abschlussprüfung bestanden haben. Mit der Taufe steigt der «Kornut» zum Gesellen auf: «Wassertauf ad posteriorum et podexiorum», heisst es in der Gautschrede. Der Gautschbrief, eine Art Zunftzeugnis, weist seine Besitzerin, ­seinen Besitzer als «Jünger der schwarzen Kunst» und «Jünger ­Gutenbergs» aus.

Mit der Industrialisierung verschwand der Brauch zusehends. Erst Ende des 20. Jahrhunderts blühte das Gautschen wieder auf. Die fast 100jährige Fröhlich Info AG gehört zu den Betrieben, die an den alten Brauchtümern festhalten, die Grenzen aber auch öffnen: Längst lassen sich nicht mehr nur Drucker und Setzerinnen gautschen, auch Fachleute der Buchdruckvorstufe oder Polygrafen setzen auf die Tradition. Diese kann natürlich auch als symbolischer Akt verstanden werden; die Wassertaufe soll zudem von schlechten Angewohnheiten und anderen Freveln reinigen …


Auszug aus Gautschspruch
Darum Gesellen PACKT AN!
lasst seinen Corpus Posteriorum
auf diesen Schwamm fallen,
dass triefen beide Ballen.

Der durst’gen Seele gebt
ein Sturzbad obendrauf,
das ist den Jüngern Gutenbergs die allerbeste Tauf.

Damit sichergestellt ist, dass die Person durch und durch nass ist,
vollziehen wir nun die Taufe «ad Podexiorum»

Es sei denn, PACKT AN!

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