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Von Öko, Lärm und anderen Reizen

Von Franca Siegfried ‒ 8. September 2022

Arbeiten, wohnen und entsorgen – Leben an der Dachslerenstrasse in Zollikon hat eine eigene Geräuschkulisse. Diese vergiftet jedoch seit Monaten die Nachbarschaft. Es wird geschimpft, getratscht und beleidigt. Warum Lärm so toxisch sein kann. Eine Stadtpsychologin sucht nach Erklärungen.

Es werden Velos geflickt, Autos repariert, und bellende Hunde bekommen neue Halsbänder. An der Dachslerenstrasse und ­der Gustav-Maurer-Strasse hat die Genossenschaft für das Zolliker ­Gewerbe vor 60 Jahren eine Zone «Gewerbe/Wohnen» bebaut. Zehn Jahre später realisierte sie mit der Gemeinde eine Überbauung: unten Werkhof und Gewerbe, oben Wohnungen zu angemessenen Preisen mit unbezahlbarem Panorama. Jahrzehnte später kam eine Mobilfunk-Antenne auf das Dach. In der nahen Umgebung steht auch der vorbildlich aufgeräumte Werkhof einer Baufirma. Vor dem Zaun entsorgen Zollikerinnen und Zolliker leere Flaschen und Büchsen. Das Schild ist gut lesbar: Einwurfzeit nur werktags 7 bis 19 Uhr. Hinter dem Zaun ist jeweils am Dienstag- und Donnerstagnachmittag und am Samstagmorgen eine Sammelstelle geöffnet, dazu gehört ein kleiner Flohmarkt. Heute dienen Plattformen wie Tutti, Exsila oder Fleedoo zum Tausch von Waren. Unkomplizierter ist es, bei Roswitha ­Leutenegger an der Sammelstelle vorbei zu fahren und ihr die ausgemusterten Sachen in die Hand zu drücken. Sie ist seit 20 Jahren die gute Fee des Betriebes, der von der J. Grimm AG in Oetwil am See ­organisiert wird. Manche werfen einen verstohlenen Blick über das Sammelsurium. Wer weiss – ein Schnäppchen!

Nervöse Zone

Alle hörbaren Töne in derselben Umgebung, ob leise oder laut, gehören zu einer gemeinsamen Klangwelt. Menschen bewegen sich in akustischen Hüllen mit natürlichen, menschlichen, technischen und instrumentalen Klängen. Diese klingen auf der Strasse, im Büro und in den eigenen vier Wänden. Darüber hat die Baudirektion des Kantons Zürich, Fachstelle Lärmschutz berichtet. Die Klangwelt an der Dachslerenstrasse erhält drei Mal die Woche eine neue Partitur – streng genommen bis 19 Uhr. Später sollte sich keine ­Menschenseele mehr in der Sammelstelle aufhalten, auch nicht ­Roswitha Leutenegger.

Trotzdem fühlen sich einige in ihrer gewohnten akustischen Hülle gestört. Sie sitzen wie das genervte Opernpublikum an einer missglückten Aufführung auf dem Balkon. Das Nebeneinander von Menschen, die nicht so richtig zusammenpassen, zeichne sich durch ein zunehmendes Auseinanderklaffen unterschiedlicher Wertvorstellungen aus, schreibt die Fachstelle in der Publikation Lärminfo 17. Urbanität sei nichts anderes als eine Form von Koexistenz. Darum ergebe sich öfters Streit über unterschiedliche Vorstellungen von Lärm.

Reizklima

Seit einigen Monaten herrscht an der Dachslerenstrasse Ausnahmezustand. Es wird geschimpft, getratscht und zurechtgewiesen. Das geschieht mündlich, direkt oder hinter vorgehaltener Hand und per Mail. Es geht immer um Lärm! «Sowohl Person als auch Situation tragen dazu bei, ob ein Lärm als störend empfunden wird», sagt Alice Hollenstein. Emotional unstabile Personen reagierten auf Lärm tendenziell sensibler und gereizter. Die Studiengangsleiterin vom CAS Urban Management an der Universität Zürich betreibt auch ein Be­ratungsbüro. Als Sozialwissenschafterin befasst sie sich mit Nachbarschaftsphänomenen und betont, dass eine gemischte Zone wie die Dachslerenstrasse konfliktanfälliger ist, da die Grenzwerte des Lärms weniger streng sind als für reine Wohngebiete.

Übungsfeld Sammelstelle

Gemäss dem Bundesamt für Umwelt liegt der Immissionsgrenzwert am Tag bei 65 und nachts bei 55 Dezibel. «Die Anzahl Dezibel ist jedoch nicht das alleinige Kriterium für den Störfaktor. Es gibt Naturgeräusche, beispielsweise einen rauschenden Bach, die haben bis zu 70 Dezibel», sagt die Stadtpsychologin. «Lärm hat meistens eine psychologische Ebene und wird zum eigentlichen Stressor, der mit der Ausschüttung des Stresshormons Cortisol das Wohlbefinden und sogar die Gesundheit beeinträchtigen kann.» Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf den gleichen Lärm? «Menschen, die isoliert leben, sind tendenziell gefährdeter. Auch die Einstellung gegenüber der Lärmquelle hat einen entscheidenden Einfluss», erklärt sie. Könnte es auch eine gesellschaftliche Erscheinung sein? Oft fühlen sich ­Einzelne machtlos gegenüber staatlichen Sachzwängen und machen sich als Freizeitpolizist bemerkbar. Alice Hollenstein: «Mit Menschen zusammenleben bedeutet, dass wir ständig dazu lernen müssen. Darum ist das Beispiel der Zolliker Sammelstelle ein gutes Übungsfeld, sich auf das Zwischenmenschliche und auf das Leben in unserer Demokratie einzulassen.»

Zwischen Nähe und Distanz

In einer ersten schweizerischen repräsentativen Studie «Hallo Nachbar:In» hat das Gottlieb Duttweiler Institut GDI in Rüschlikon Nachbarschaften untersucht (Mai 2022). Der Fokus liegt auf nachbarschaftlichen Beziehungen. 83 Prozent der Bevölkerung leben in einer grösseren Stadt oder Agglomeration. Sie sind an ihrem Wohnort meist von Menschen umgeben, die sie kaum kennen. Nachbarschaftsbeziehungen sind dynamisch und werden im Wechselspiel zwischen Rückzug und Aktivität, Nähe und Distanz geformt. Tatsache ist, dass sich die Distanz der Nachbarschaft bei der Zolliker Sammelstelle mit gehässigen Zwischentönen stark vergrössert.

Weisungen

Die Gemeinde kann in diesem Fall nur mit Weisungen an alle reagieren: «Der Flohmarkt wird weiterhin durch die Gemeinde geduldet, soll aber in kleinem Rahmen stattfinden (gelbe Markierung) und darf den Betrieb der Sammelstelle nicht beeinträchtigen. Diese Fläche darf nicht ausgeweitet werden. Sämtliche Sachen, die nicht für den Betrieb der Sammelstelle nötig sind, müssen aus der Sammelstelle entfernt werden. Wenn Unordnung herrscht, kann die Gemeinde den Flohmarkt schliessen und das gesamte private Material muss aus dem Areal entfernt werden …» Was würde die Stadtpsychologin dieser Weisung hinzufügen? «Erst mal die verschiedenen Seiten anhören, ­einander verstehen lernen und zusammen nach machbaren Lösungen suchen. Menschen, die sich verstanden fühlen, sind meist viel offener für neue Perspektiven.» Die Klangwelt an der Dachslerenstrasse hätte durchaus einen frischeren Sound verdient.

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Eine Antwort

  1. Naja, wenn man in einer WG Zone wohnt muss man mit mehr Lärm als in einen Wohnzohne rechnen…
    Rede aus Erfahrung, nachts noch das Martinshorn der Ambulanzwagen.

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