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Auf Wellenlänge mit den Haien

Von Ramona Bussien ‒ 9. Februar 2023

Erich Ritter (1958–2020) erforschte mehr als das Verhalten von Haien: Er erforschte die Hai-Mensch-Interaktion in den Gewässern vor den Bahamas, vor Fidschi, Mexiko, Südafrika. Im Gedenken an ihn und seine Arbeit referierte Andy Dellios am 19. Januar im Zürcher Volkshaus.

Erich Ritter, bekannt für seine Arbeit mit Haien, war auch ein guter Sportler. Er trug den schwarzen Karategürtel, absolvierte den Great Floridian Triathlon und war allein schon durchs Tauchen in Topform. (Bild: Andy Dellios)
Erich Ritter, bekannt für seine Arbeit mit Haien, war auch ein guter Sportler. Er trug den schwarzen Karategürtel, absolvierte den Great Floridian Triathlon und war allein schon durchs Tauchen in Topform. (Bild: Andy Dellios)

Während sich die ­Zuschauerreihen füllen, gleiten ­Tigerhaie und Weisse Haie über die Leinwand. Die Aufnahmen machte Andy Dellios, der als Freund von Erich Ritter und Präsident der SharkSchool referiert. Mitglieder der SharkSchool empfangen die Gäste – und schnell wird klar: Auch unter ihnen sind zahlreiche Freunde und Bekannte, die mit Haien getaucht sind – mit Erich selbst oder mit Andy Dellios. Für alle anderen eröffnet sich an diesem Abend eine faszinierende Welt. Wer war Erich Ritter? Was zog einen Schweizer, einen Zolliker, ausgerechnet zu den Haien? Und wie geht es mit der SharkSchool weiter? Erich Ritter weilt nicht mehr unter uns, doch sein Anliegen könnte kaum zeitgemässer sein: «Stirbt der Hai, stirbt das Meer.»

Von Zollikon zu den Haien

Erich Ritter war 35 Jahre lang in der Forschung tätig. «Er liess die Haie reinkommen und rausgehen. Freiwillig», sagt Andy Dellios. Am 30. Dezember 1958 in Zürich geboren, wuchs er in Zollikon auf. An der Rebwiesstrasse. Ein Dokumentarfilm über Haie zündete noch in Kindertagen seine Leidenschaft für die Knorpelfische. Als er schliesslich «Doktor Dolittle» las, wusste er: «Ich will Haidoktor werden!» Mit Haien kommunizieren, wie es Doktor Dolittle mit den Tieren tat, das wollte er auch. Mit diesem Kindertraum und einer Tauchermaske ausgerüstet, begann er, sich mit dem Element Wasser auseinanderzusetzen. Bald hiess es: «Ich möchte nicht Haidoktor werden, ich werde Haidoktor.» Seine Entschlossenheit sollte ihn weit bringen. An der Universität Zürich studierte er Biologie mit den Schwerpunkten Zoologie und Paläontologie. Dann zog es ihn nach Florida, zu gestandenen Haiforschern. Die Ernüchterung folgte rasch.

«Let’s go in!»

In den Gewässern vor Florida schwimmen zahlreiche Tiger- und Bullenhaie. Ein Paradies für Haiforscher. «Let’s go in!», hatte Erich Ritter gesagt. Die Forschenden: «Da sind Haie! Da gehen wir nicht rein.» Mit Haien wollte in den 70er- bis 90er-Jahren niemand schwimmen. Oder fast niemand. Erich Ritter hatte einen «brutalen Willen, etwas zu erfahren», erzählt Andy Dellios. Konnte er eine Sache nicht nachvollziehen, musste er ihr auf den Grund gehen. Die Angst vor Haien hatte sich nach Filmen wie Steven Spielbergs «Jaws – Der Weisse Hai» tief ins Bewusstsein der breiten ­Öffentlichkeit gegraben. So tief, dass nicht einmal die Forschenden selbst bereit waren, zu den Tieren ins Wasser zu steigen. Während die Wissenschaft die verbreitete Meinung lange Zeit nicht überprüfte, käuten und käuen die Medien Vorurteile und Falschwissen wieder; die pure Fiktion wurde zur folgenschweren Selbstverständlichkeit. Folgenschwer für die Haie, die Meere – und nicht zuletzt für uns selbst. Erich Ritter wollte sich nicht damit zufriedengeben, was die Welt über Haie zu wissen glaubte. Er wollte zeigen, wie Haie wirklich sind. Mit einer guten Prise Mut begann er auf den Bahamas und in Florida seine Forschungsarbeit.

Die SharkSchool

«Lasst uns einfach mal schauen, was passiert.» Erich Ritters gewagter Ansatz förderte eine Fülle an Erkenntnissen zutage. Diese wollte er nicht nur mit einer Gruppe von Studenten teilen; 1996 gründete er die SharkSchool. Wenn Erich Ritter mit den Absolventen seiner Schule nicht gerade mit Haien tauchte oder Haiunfälle untersuchte und rekon­struierte, schrieb er wissenschaftliche Publikationen und Bücher, reiste um die Welt, hielt Vorträge oder leitete Kurse. Die SharkSchool bildet nicht nur interessierte Privatpersonen aus, sondern auch Polizei und Küstenwache, selbst die Navy, denn: Falsche Vorstellungen führten dazu, dass jenen Menschen, die im Arbeitsalltag mit den Tieren in Kontakt kommen könnten, verquere Verhaltensweisen geraten werden. Wie verhalte ich mich, wenn sich mir ein Hai nähert? «Aufs Wasser schlagen», hiess – und heisst es mancherorts noch. Genau das, konnten Erich Ritter und seine Schüler nach ihren Selbstversuchen belegen, lockt die überaus neugierigen Tiere an. Das SharkSchool-Teaching wurde zum Sprachrohr des Forschers und widerlegte die Vorurteile und Irrtümer rund um die Hai-Mensch-Interaktion. Eine Arbeit, die längst nicht abgeschlossen ist.

Die nächste Station

«Es gibt keine gefährlichen Haie, nur gefährliche Situationen», ist eines von vielen Fazits, die Erich Ritter aus seiner Forschung gezogen hat. Am 28. August 2020 verstarb er an einem Herzleiden in seinem Haus in Pensacola, Florida. Sein Wunsch war, dass seine Asche den Haien übergeben wird. Erich Ritters ­Hinterbliebene, sein Bruder Heinz ­Ritter und dessen Frau Pat, reisen zusammen mit Freunden Erichs, Andy Dellios und der SharkSchool zum Cape Eleuthera auf den Bahamas, um diesem Wunsch nun, fast drei Jahre später, nachzukommen. Gemeinsam möchten sie Erich ­Ritters Lebenswerk weiterführen: So liessen sie bereits 345 Kilogramm Material in die Schweiz einfliegen, damit die Ergebnisse seiner Forschung erhalten bleiben.

Erich Ritter war mehr als ein Haiforscher: Er untersuchte die Hai-Mensch-Beziehung. Weil er den Menschen aus dieser Gleichung nicht ausklammerte, ist seine Forschung so wichtig. Letztlich können wir Tiere nur schützen, die wir verstehen und nicht fürchten.

Über 400 Millionen Jahre

«Die Natur will keinem etwas ­Böses», sagte Andy Dellios im zweiten Teil seines Referats. «Sie will sich nur ernähren und fortpflanzen.» Aufnahmen reihen sich an Aufnahmen. Jeder Hai hat seinen Namen. Seine Persönlichkeit. Da ist die Tigerhaidame «Crazy Kelly». Oder «Lucy» vor Guadalupe, ein fünf Meter langes und drei Tonnen schweres Weibchen eines Grossen Weissen, das sich durch unbekannte Umstände den oberen Lobus der Schwanzflosse gebrochen hat und seither auf Zufütterung angewiesen ist. Oder «Cosma», die Andy Dellios nach der Hündin einer Kollegin benannt hat, und der er nach einem Jahr wiederbegegnet ist. Ein Grund zur Freude, «dass sie noch lebt.» Weisse Haie werden über 70 Jahre alt. Mit 20 bis 25 Jahren erreichen sie die Geschlechtsreife. Damit brechen sie keineswegs Rekorde; der älteste bislang gefundene Grönlandhai zählte fast 400 Jahre. Bis dahin schaffen es immer weniger Haie. Der Grund sind nicht nur grössere Haie, Orcas oder andere Raubtiere: Pro Jahr werden über 100 Millionen Haie getötet. Als Beifang, für ihre Flossen oder als Sport. Hinzu kommen Faktoren wie die Überfischung und Verschmutzung der Meere. Sichtungen grosser und altgewordener Adulttiere werden rarer und rarer. Vor Südafrika, der Hochburg der Weissen Haie, sind diese seit 2019 fast vollständig verschwunden. Dabei haben Haie eine Menge überlebt: Seit über 400 Millionen Jahren durchkämmen sie in nahezu unveränderter Form die Gewässer unserer Welt. Sie lebten lange vor den Dinosauriern, ja, vor den ersten Wäldern – im Devon, noch vor dem Landgang der ersten Wirbeltiere. Zum Vergleich: Unsere Spezies, den Homo sapiens, gibt es seit gerade einmal 300 000 Jahren.

«Stirbt der Hai, stirbt das Meer – und stirbt das Meer, sterben wir», sagte Erich Ritter. Heute weiss man: Das Aussterben der Haie wäre nach dem Aussterben der Bienen die zweitgrösste ökologische Katastrophe unserer Zeit.

Warum genau sollen wir Haie schützen?

In einer E-Mail aus 2005 schrieb Erich Ritter dazu: «Haie sind die häufigsten Raubtiere über 50 Kilogramm auf diesem Planeten. Da sie primär Fleischfresser (= Räuber) sind, stehen sie jeweils zuoberst an den Nahrungsketten und kontrollieren diese entsprechend. Eine Entnahme respektive Reduktion dieser Kontrolle würde zu unkontrollierten Situationen oder schlussendlich Zusammenbrüchen führen. Hier ein verwandtes Beispiel: ­Serengeti. Wenn wir dort alle Fleischfresser (Löwen, Hyänen, Geparde …) abschiessen, können sich die Grasfresser (Antilopen etc.) frei vermehren. Das bedeutet, dass dann plötzlich viel mehr Tiere da sind, welche auch mehr Futter brauchen und schlussendlich alles Gras wegfressen. Ein Teil der Tiere wird abwandern, ein Teil wird verhungern. Etwas Ähnliches geschieht im Meer, wenn man die Haie dezimiert.»

Und: Ist das Ökosystem Meer gestört, schwindet auch das Phytoplankton – der grösste Sauerstoffproduzent unseres Planeten.


Informationen über die SharkSchool: www.sharkschool.com,
sharkschool-teaching.org

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